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© dpa

Bundestrainer im Interview: Joachim Löw: „Das Bild der Mannschaft war verrückt“

Joachim Löw spricht über die Erkenntnisse der Europameisterschaft, die Notwendigkeit von Alternativen, die Konflikte mit Ballack und Frings sowie seinen Rat an Podolski.

Herr Löw, in der Fifa-Weltrangliste belegt Ihr Team, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, den zweiten Platz. Ist die Mannschaft wirklich so gut?

Ich lasse mal dahingestellt, welche Aussagekraft diese Rangliste hat. Ich denke, die Mannschaft hat fast das Maximale rausgeholt in diesem Jahr. Die Finalteilnahme bei der EM ist zufriedenstellend, aber wir müssen uns in allen Details verbessern. Wir müssen die Mannschaft technisch und taktisch verbessern, die Spielkultur und Intensität erhöhen.

Wenn man Sie so hört, dann könnte man meinen, der zweite Platz bei der EM war eine echte Überraschung.

Lassen Sie mich kurz ausholen. Die Mannschaft, die ich nach der WM 2006 übernommen habe, hat eine hervorragende EM-Qualifikation gespielt. Sie hat sich permanent entwickelt, sie ist überwiegend besser geworden. Es gab keine Veranlassung, die Mannschaft personell zu verändern. Unmittelbar vor dem EM-Turnier haben wir gesagt: Wir halten an ein paar Spielern fest ...

... Sie meinen Lehmann, Metzelder und Frings, die nicht in Bestform waren ...

... also haben wir gesagt: alle Kraft und alles Vertrauen in diese Spieler rein, weil sie bei vergangenen Turnieren ja auch gut gespielt haben. Aber es gab auch andere Gründe, warum wir bei der EM nicht ganz das Niveau erreicht haben. Etwa die unterschiedliche Belastung der Spieler vor dem Turnier. Nach der EM gab es dann eine andere Situation, eine, wie sie oft nach Turnieren eintritt. Wir nahmen uns vor, Alternativen zu schaffen. Wir mobilisieren jetzt alles, um jüngere Spieler heranzuführen.

Indem Sie junge Spieler fördern, verprellen Sie andere, ältere Spieler. Das ist nicht ohne Konflikte geblieben.

Nach der EM sahen wir als Trainer den Zeitpunkt für Veränderungen gekommen. Uns war klar, dass wir auch ein paar Korrekturen für die nächsten zwei Jahre brauchen. Das Turnier im Sommer ist ja nicht ganz nach unseren Wunschvorstellungen gelaufen. Einige mussten ganz bewusst angreifen. Spielern wie Trochowski und Hitzlsperger haben wir gesagt: Jetzt muss ein Schritt kommen, und zwar ein gewaltiger. Das verstärkte den Konkurrenzkampf. Wir brauchten die eine oder andere Korrektur. Das ist wichtig, um Richtung 2010 und darüber hinaus gewappnet zu sein.

Welche Erwartungen haben Sie an Michael Ballack bei seiner Rückeingliederung in die Nationalelf?

Der war, ist und bleibt eingegliedert bei uns. Michael ist ein Leistungsträger dieser Mannschaft.

Das hört sich sehr nüchtern an, immerhin ist Ballack Ihr Kapitän.

Michael Ballack wird ein Mitglied der Mannschaft sein, wie er es immer war. Die Dinge sind ausgesprochen, da gibt es nichts mehr drüber zu sagen. Auch mit Torsten Frings gab es ein längeres Gespräch. Es hatte ja keine disziplinarischen Gründe, warum er mal nicht spielte. Er war mehrere Monate vor der EM verletzt. Er war nicht in der Form, die ihn sonst ausgezeichnet hat. Er hat Nachholbedarf, aber wir glauben schon noch, dass er da wieder zu seiner alten und wahren Stärke findet. Er soll jetzt eine gute Vorbereitung machen, und dann geht es eben nach Leistung.

Könnte es sein, dass die Kommunikation dieses Prozesses etwas auf der Strecke geblieben ist? Hätte man es Frings oder Ballack nicht anders beibringen können?

Wenn wir jüngere Spieler, die schon eine Weile dabei sind, aber den Sprung in die Mannschaft noch nicht geschafft haben, wenn wir diese Spieler auffordern, sich klar zu steigern, sich zu positionieren, dann kann man das kommunizieren – muss es aber nicht. Außerdem ist es uns recht, wenn Konkurrenzkampf stattfindet. Im August haben wir die Mannschaft darüber informiert, dass wir vermehrt junge Spieler einsetzen wollen. Das muss reichen.

Sie hätten sich aber einigen Ärger ersparen können.

Darum geht es nicht, es geht um Entwicklung. Konkurrenzkampf ist gut, und das wollen wir auch weiterhin so.

Dann nehmen Sie bewusst in Kauf, dass die Hierarchie ins Wanken gerät?

Es ist doch normal, dass sich Hierarchien verändern. Bei uns war es zwangsläufig so. Jens Lehmann zum Beispiel war ein Führungsspieler, dessen Wort riesiges Gewicht hatte. Auch Metzelder hatte viel Einfluss, obwohl er bei der EM nicht an seine Leistungen wie bei der WM 2006 rankam. Und dann ist auch noch Bernd Schneider ausgefallen, der aufgrund seiner Erfahrung, seiner Persönlichkeit und seines spielerischen Könnens oben stand in der Hierarchie. Seit der EM sind diese Spieler nicht mehr da. Das bringt eine Veränderung der Hierarchie mit sich. Andere Spieler rücken nach. Lahm, Schweinsteiger und Mertesacker haben wir gesagt, dass sie jetzt in eine Führungsrolle reinwachsen sollen.

Das lässt sich aber nicht verordnen.

Natürlich nicht, deshalb haben wir diesen Spielern gesagt, beschäftigt euch mal mit diesem Thema. Wir können niemandem sagen, so, jetzt bist du Führungsspieler. Dazu gehört Erfahrung und auch die Stärke, führen zu können. Vor allem in schwierigen Momenten eines Spiels. Da kann ein Spieler sich nur rein entwickeln. Aber damit muss ein Spieler sich beschäftigen. Wir haben dazu aufgefordert, weil wir das bewusst so wollten.

Die Schwierigkeiten waren einkalkuliert?

Eine Mannschaft lebt ja vom Fluss. Neue Spieler kommen hinzu, andere, die ein gewisses Alter haben, hören auf. Es ist ein Kommen und Gehen. Bei einem Verein ist es am Saisonende viel ausgeprägter.

Ist es das, was Oliver Bierhoff meinte, als er unlängst davon sprach, das Märchen sei vorbei?

Was heißt Märchen? Das Sommermärchen ist ein Begriff gewesen, aber das ist vorbei und abgehakt. Der Fußball ist ein hartes Geschäft, auch bei der Nationalmannschaft. Das ist eine Hochleistungsgesellschaft, es geht um Plätze in der Mannschaft, es gibt Konkurrenz, und da wird von Spielern unglaublicher Ehrgeiz entwickelt. Das, was wir gerade erleben, ist ein ganz normaler Prozess, der auch nie endet. Ich gebe zu, in diesem Jahr haben wir die eine oder andere Disharmonie gehabt. Konflikte hat es immer mal welche gegeben, was schon deswegen gut ist, weil so bestimmte Prozesse in Gang kommen. Jetzt war es mal so, dass etwas nach außen getragen worden ist. Die Lehren sind daraus gezogen.

Sie sagten, dass allen noch einmal die Regeln in Erinnerung gerufen wurden. Spieler haben sich nicht kritisch gegenüber anderen
Spielern zu äußern, erst recht nicht gegenüber den Trainern. Warum nicht?

Überall, wo viele Leute zusammenarbeiten, bei uns sind es mit Funktionsteam und Betreuer an die 50, muss man immer mal an solche Dinge erinnern. Wir wollen den Spielern um Gottes willen keinen Maulkorb verpassen. Das wäre schlecht. Sie sollen ja ihre Meinung sagen, aber es soll wohl überlegt sein, wo sie das tun. Intern ist fast alles erlaubt. Wir haben jetzt noch einmal daran erinnert, dass wir bestimmte Regeln haben und was sie beinhalten. Damit ist das Thema erledigt.

Was passiert, wenn noch einmal jemand dagegen verstößt?

Auch diese Dinge sind intern geregelt. Das wird so nicht mehr passieren.

Haben Sie Ihren Führungsstil geändert?

Ich sehe keinen Unterschied. Ich habe nach der EM ein paar Dinge angesprochen, die angesprochen werden mussten. Ich halte mich für einen Trainer, der viel kommuniziert. Aber wenn der Rahmen, den ich vorgebe, überschritten wird, dann muss ich einschreiten. Es war nämlich eine Situation aufgetreten, die das gesamte Bild der Mannschaft ein wenig verrückte. Wir mussten etwas klarstellen, und ich wusste dabei von Anfang an, was ich mache.

Befürchten Sie nicht, dass der harte Kurs jüngere Spieler verschreckt?

Das glaube ich nicht. Sie müssen und werden in ihre Aufgaben reinwachsen. Ich kann nicht sehen, dass sie eingeschüchtert sind. In erster Linie zeigt sich auf dem Platz, ob jemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Nur so erarbeitet man sich Akzeptanz. Aber natürlich ist nicht jeder mit 24 oder 26 in der Lage, eine Mannschaft zu führen, das Gesamtgebilde schon im Auge zu haben und für alle mitzudenken. Das ist schwierig. Zusätzlich denkt jeder Spieler an seine Position, seine Aufgabe und seine Rolle. Wir haben einige, die von ihren Charaktereigenschaften und Fähigkeiten her eine Führungsrolle übernehmen können. Es hat viel mit Erfahrung und Qualität zu tun, in schwierigen Momenten auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen und Anweisungen zu geben.

Kann es sein, dass Sie kritischer mit den Spielern umgehen?

Was heißt kritischer? Wir haben den Spielern Tendenzen aufgezeigt, die positiv waren. In einigen Bereichen sind wir besser geworden, aber lange nicht am Optimum. Die Aufgabe jedes Trainers in Deutschland ist, die Qualität insgesamt zu verbessern. Das ist unser Anspruch und Ehrgeiz. Wir müssen uns verbessern, weil, und das habe ich schon vor drei Jahren gesagt, wir in Deutschland nicht auf der Überholspur sind. Wir haben in einigen Bereichen Luft nach oben.

War 2008 für Sie das lehrreichste Jahr?

Ich glaube, dass ich immer gelernt habe und immer wieder noch hinzulernen werde. Das WM-Jahr 2006 war besonders intensiv, danach war es sehr schwierig, mit dieser Euphorie in den Alltag zu kommen und weiterzugehen. Der Hype war extrem, die Mannschaft musste einen Neuanfang machen, das war nicht so einfach. Es ist immer schwierig, nach einem Turnier in einen Fluss zu kommen. Das ist uns jetzt zweimal ganz gut gelungen. Wobei ich unser letztes Spiel in diesem Jahr, das gegen England, mal ausklammere. Das war schlecht. Aber der Sieg über Russland in der Qualifikation hat uns gezeigt, dass wir es können.

Dann war 2008 ein normales Jahr?

Natürlich ist in diesem Jahr viel passiert. Wir wurden mit Platz zwei bei der EM belohnt, aber es gab auch Rückschläge. Deshalb freue mich jetzt auf zwei Wochen Urlaub. Aber der Spaß ist nach wie vor groß. Ich bin voller Spannung und Energie und freue mich auf das nächste Jahr.

Was macht Sie so optimistisch?

Wir haben jetzt mehr Alternativen als noch vor der EM. Nehmen Sie Rolfes und Hitzlsperger. In ihren Vereinen sind sie jetzt Kapitäne. Sie haben bei uns einen großen Schritt gemacht. Oder Trochowski, der vor der EM eine total untergeordnete Rolle gespielt hatte. Wir waren aber von seiner Qualität und seinem Potenzial überzeugt. Nur hat er das zu selten gezeigt. Er hat den vielleicht größten Schritt gemacht. Jetzt ist er ein Leistungsträger auf der linken Seite. Auch Westermann hat sich an die Mannschaft herangearbeitet. Oder nehmen Sie Helmes, der ist immer besser geworden. Auch von Tasci halten wir viel.

Was empfehlen Sie Lukas Podolski? Sollte er in der Winterpause wechseln?

Lukas hat es in diesem Jahr geschafft, in der Nationalmannschaft sehr gute Leistungen zu bringen, obwohl er sehr wenig Spielpraxis im Verein hatte. Er hat bei der EM Tore erzielt, er hat Tore vorbereitet, er hat auch anschließend in der WM-Qualifikation überzeugt. Wer den Lukas kennt, der weiß, dass er gerade im Spiel besonders aufleben kann. Ich denke, das Thema ist intern beim FC Bayern besprochen. Der Lukas wird die Freigabe von Bayern München bekommen. Ich denke, spätestens im Sommer wird es einen Vereinswechsel geben. Am Saisonende ist ein guter Zeitpunkt für ihn. Zu lange ohne regelmäßige Spielpraxis zu sein, ist keine wünschenswerte Situation.

Und was wünschen Sie sich privat?

Zeit. Zeit ist für mich wichtig. Anderen Menschen Zeit zu schenken, ein paar gute Gespräche zu führen und ein bisschen Ruhe zu haben.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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