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APTOPIX China Beijing After Dark

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China verstehen: Vom Abriss bedroht

Wir erklären das Gastgeberland, Folge 3: Noch gehören Sie zum historischen Stadtbild - Pekings enge Gassen, genannt Hutongs.

Die schwüle Hitze des Tages will nicht aus der schmalen Sackgasse ziehen, die sich an die Ostmauer der Verbotenen Stadt anduckt. Im Neonlicht eines Nudelrestaurants spielen Kinder auf der Straße Federball, der Vater steht mit bis zur Brust hochgerolltem Unterhemd daneben und lüftet seinen wohlgenährten, schweißglänzenden Bauch.

Aus einem winzigen Straßenimbiss lehnt eine alte Frau heraus und schwatzt mit einer Nachbarin, die bereits ihren Schlafanzug trägt. Hinter der öffentlichen Toilette streitet sich eine 15-Jährige mit toupierten Haaren per Handy mit ihrem Freund. Privatsphäre ist ein westliches Konzept, das nicht zum Hutong-Leben in Peking passen will.

Hutong bedeutet wörtlich übersetzt „Gasse“ und bezeichnet die engen Nebenstraßen Pekings, die beidseitig mit einstöckigen, grauen Hofhäusern gesäumt sind. Sie bilden verwinkelte Stadtviertel, die vom Verkehr der Hauptstraßen abgeschnitten sind. Das rege Stadtleben schlägt hier eine gemächlichere Gangart ein. Doch was von Touristen als idyllisch empfunden wird, hat oft Nachteile für die Bewohner. Ein Drittel von ihnen, das ergab eine Umfrage der Pekinger Organisation „Cultural Heritage Protection Centre“ (CHP), würde gerne in moderne Hochhauswohnungen umziehen. Sie haben genug von den beengten Wohnverhältnissen, den dunklen Zimmern ohne Heizung und eigene Sanitäranlagen, genug von der sozialen Kontrolle der Nachbarn.

Seit mehr als 700 Jahren existieren die ältesten Hutongs in Pekings Altstadt. Die typischen rotweißen Emailleschilder vieler Hutongs führen mit ihren Straßennamen direkt in die chinesische Geschichte, erinnern sie doch an mächtige Eunuchen, kaiserliche Hut- und Trommelmacher, an verschwundene Fischmärkte und Juweliere. Durch die Modernisierungen der letzten 50 Jahre schrumpfte die Zahl historischer Hutongs in Peking von 3000 auf 1000. Im Jahr 1990 stellte die Regierung deswegen rund 40 Prozent der historischen Innenstadt unter Denkmalschutz – und schickte angesichts der maroden Häuser dann doch vielerorts die Abrissbagger. Bis heute liegen ganze Nachbarschaften in Trümmern und warten auf ihre Rundumerneuerung im alten Gewand – jedoch ohne ihre ursprünglichen Bewohner, die längst mit niedrigen Abfindungen in Hochhäuser am Stadtrand umgesiedelt wurden.

Modernisiert und mit mehr Komfort werden die Hutongs auch für Pekings jungen Mittelstand interessant, der sein Herz für die chinesischen Traditionen wiederentdeckt hat. Bekanntestes Beispiel ist die Nanluoguxiang, Pekings angesagte Designermeile. Die von Platanen überschattete Gasse wird seit einigen Jahren von Barbesitzern und jungen Designern mit neuem Leben gefüllt. Trendbewusste Chinesen leisten sich dort im Teehausambiente Eiskaffee zu europäischen Preisen, im „Hutongren Idea Culture Hotel“ finden Touristen „authentisch“ eingerichtete Zimmer und in der „Black Sesame Kitchen“ können Einwanderer chinesisch Kochen lernen. In Peking sind die Hutongs hip geworden – gerade zu dem Zeitpunkt, wo viele von ihnen verschwinden.

Lu Yen Roloff

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