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Sport: Chinas Turner: Die Fabrik der begnadeten Körper

Die Luft über der chinesischen 9,6-Millionen-Einwohner-Stadt Tianjin sieht immer etwas gelblich aus. Der Smog.

Die Luft über der chinesischen 9,6-Millionen-Einwohner-Stadt Tianjin sieht immer etwas gelblich aus. Der Smog. Eine Nebenstraße. Die "Tianjin Sports School" hat etwas von einem Fabrik-Gelände. Graue Fassaden, schmucklose Sporthallen. Hier also werden sie gemacht, die begnadeten Körper. Herr Zhang, der freundliche Direktor, wartet am Eingangs-Portal. Herr Ma, der freundliche Sekretär, begleitet ihn. Dies ist ihr kleines Reich im großen Reich der Mitte. Eine ganz normale Sportschule in der Provinzhauptstadt Tianjin, die etwa 140 Kilometer von Peking entfernt und die drittgrößte chinesische Metropole ist. Dass die Millionenstadt Tianjin für den normalen Mitteleuropäer kein Begriff ist, lässt die beiden Sport-Funktionäre staunen. Für sie ist die Sportschule in der Nebenstraße der Mittelpunkt ihres Lebens.

Wir sind auf der Suche nach dem Geheimnis des chinesischen Kunstturnens. Bei den Olympischen Spielen in Sydney haben Chinas Turner am Montag zum ersten Mal Mannschafts-Gold gewonnen. Ein Jahr nach dem Triumph bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land erkämpfte sich die Riege diesmal noch beachtlichere 231,919 Punkte. Die Ukraine (230,306) und Titelverteidiger Russland (230,019) hielten sie dabei deutlich auf Distanz. Auch bei den kommenden Einzelwettbewerben in Sydney werden die Chinesen wieder diverse Plaketten sammeln. So haben sie es auch bei den Weltmeisterschaften der letzten Jahre gehalten. Die Chinesen turnen seit einem Jahrzehnt in einer anderen Welt.

Also, was ist das Geheimnis?

Der freundliche Herr Zhang führt durch seine Schule. Durch kahle Gänge mit gekalkten Wänden, wie man sie aus dem Kinofilm "Einer flog über das Kuckucksnest" kennt. In einem Zimmer sitzt eine komplette Frauen-Volleyballmannschaft in verschwitzten Sport-Klamotten. Lernen zwischen den Trainingseinheiten. Die Tische im Speisesaal machten nicht den saubersten Eindruck. Ein Blick in die Küche. Chinas Sportler werden gut ernährt. Besser als viele andere ihrer Landsleute. 200 junge Athleten leben hier, essen hier, trainieren hier. Nicht nur Turner, auch Basketballer, Volleyballer, Leichtathleten und Gewichtheber. 150 Angestellte sorgen dafür, dass der Laden läuft. Chinesische Verhältnisse. Europäische Sportschulen ähnlicher Größe müssen mit einem Bruchteil dieser Belegschaft auskommen.

"Meine Halle", sagt Zhi-Jie Zhang stolz und öffnet die Glastür zur Kunstturn-Halle. In der Ecke blubbert ein Trinkwasser-Behälter, daneben steht eine Waage, ein Piano. Die gedämpfte Musik allerdings kommt aus einem Kassetten-Rekorder. Westliche Musik. Die begnadeten Körper haben Namen. Guanyin Wang, Peng Wang, Kunwei Pei. Nachwuchsturner, die täglich bis zu sechs Stunden trainieren. Ob sie es jemals bis in die Nationalmannschaft schaffen? Ein schwieriges Thema. Die chinesischen Trainer schöpfen aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von 6000 Kunstturnern. Die Besten haben zuerst im Team des Stadtbezirks, dann im Team der Stadt geturnt. Die Besten der Besten haben über eines der 29 Provinzteams den Sprung ins nationale Trainingszentrum von Peking und damit in die Nationalmannschaft geschafft.

Es hört sich geradezu irrwitzig an: In die chinesische Mannschaft zu kommen ist schwieriger, als später Mannschafts-Olympiasieger zu werden.

Die Nachwuchsturner von Tianjin trainieren mit einer stoischen Ruhe. Felgen, Flanken, Flic-Flacs, dazwischen Kraftübungen mit einer zur Hantel umfunktionierten Reckstange. Ihr Trainer Yao Hong Chen ist noch ruhiger. Auf ein turnendes Kind in Deutschland, sagt er, kämen in China einhundert. Genau in diesem Moment geht die Tür auf und 30 höchstens 6-jährige Mädchen erfüllen die Halle mit einem unbeschreiblichen Gewusel. Wirklich gesund sieht es nicht aus, was die Kinder machen. Westliche Vorurteile? Wahrscheinlich. Ein Trainer, der die Mädchen im Feldwebel-Ton an die Geräte peitscht, ist weit und breit nicht in Sicht.

Fudi Zhou, ein anderer Nachwuchstrainer, hat schon viele 5-Jährige trainiert. "Bevor man schwere, gefährliche Bewegungen macht", sagt er, "müssen die Muskelkraft und die Technik stimmen." Im Sichtungssystem der Chinesen hat Zhou in vielen Kindergärten Station gemacht. Nicht zu groß dürften die Kinder sein. Und nicht zu dick. Das Wichtigste aber, sagt er, seien die Augen. Lebhaft müssten sie sein.

"Über die Augen schaue ich in ihr Herz", sagt der Trainer.

An der Hallendecke in Tianjin hängen Transparente mit chinesischen Schriftzeichen. "China ist in meinem Herzen", bedeuten sie, oder: "Ich gebe das Beste für mein Land." Der sportliche Erfolg ist gleichzeitig der Erfolg des sozialistischen Gesellschaftssystems. Und die Sportschulen in den Provinzen tragen ihren Teil zu den Erfolgen bei. Zhen Dong, ein Turner aus der Schule von Tianjin, ist im vergangenen Jahr Weltmeister an den Ringen geworden. Das erfüllt Herrn Zhang, Herrn Ma und Herrn Chen mit unglaublichem Stolz. Das Transparent mit den Glückwünschen hängt noch heute über dem Portal.

Manche Experten meinen, dass die Vorherrschaft der Chinesen im männlichen Kunstturnen für die nächsten Jahre fest zementiert sei. Sie müssen nicht unbedingt Recht haben. Der gesellschaftliche Wandel in der Volksrepublik hat unmittelbare Auswirkungen auf das Sportsystem. Das Sportministerium stellt nicht mehr unbegrenzt Geld zur Verfügung, macht dafür - ganz im Trend der Zeit - Kosten-Nutzen-Rechnungen auf. Nur noch die erfolgreichen Turnzentren sollen gefördert werden, hunderte von Trainerstellen sind in Gefahr.

Und auch in den typischen chinesischen Ein-Kind-Familien wird schon längst umgedacht. "Viele Familien wollen ihre Kinder nicht mehr hergeben", hat der Nachwuchstrainer Zhou beobachtet. Das moderne China scheint für seine Olympiasieger nicht mehr so viel Platz zu haben wie früher. Computer- und Englisch-Kenntnisse sind für viele wichtiger als Handstand und Salto.

Kein Geheimnis.

Jürgen Roos

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