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Sport: Das bewegte Leben des Bewegungslosen

Sieben Jahre nach seinem dramatischen Turn-Unfall dreht sich Ronny Ziesmers Alltag um Dinge, die leicht aussehen und doch ungeheuer schwer sind.

Berlin - Wie viel er die Hände bewegt. Das fällt als erstes auf. Er hebt sie, streckt sie nach links, streckt sie nach rechts, zerteilt die Luft mit ihnen – wenn Ronny Ziesmer spricht, stehen seine Hände kaum einen Moment still. Auch jetzt sind sie wieder in der Luft unterwegs, und dabei erzählt Ziesmer, dass er einige Stunden zuvor fast unter der Erde steckengeblieben wäre. Sein Berater und er waren nach Berlin gefahren, hatten das Auto in einer Tiefgarage abgestellt – und fanden dann erst einmal keinen Fahrstuhl, um in den vierten Stock hoch zu kommen. Dort warteten Mitarbeiter eines Unternehmens, die eine Ferienanlage an der Ostsee entwickeln, wo Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam Urlaub machen können. Ziesmer soll Ideengeber sein, und wie das Beispiel mit der Tiefgarage zeigt, ist seine Hilfe dringend nötig: Menschen, die ihre Beine benutzen können, haben oft keinen Sinn dafür, was Rollstuhlfahrer brauchen.

Ronny Ziesmer, Jahrgang ’79, Turnertalent aus Cottbus, weiß es umso besser. 2004 brach er sich beim Training für Olympia das Rückgrat. Seitdem leidet er an einer Tetraplegie – eine Lähmung, von der nicht nur die Beine, sondern auch die Arme betroffen sind. Doch Ziesmer hat etwas Kontrolle über seine Arme wiedererlangt. Inzwischen fährt er selbst Auto und hat dieses Jahr zum dritten Mal mit dem Handbike am Berlin-Marathon teilgenommen. Überhaupt führt Ziesmer ein bewegtes Leben, obwohl er sich selbst kaum bewegen kann. Vor knapp zwei Monaten hat er sein Biotechnologie-Studium abgeschlossen. In gewisser Weise ist es jetzt jeden Tag in Ziesmers Leben so wie früher beim Turnen an Reck und Ringen, von früh bis spät tut er Dinge, die leicht aussehen und in Wirklichkeit ungeheuer schwer für ihn sind.

Dass etwas nicht stimmte, hatte Ziesmer schon während des Tsukahara-Sprungs – einem Überschlag mit anschließendem Rückwärtssalto – gemerkt. Schließlich weiß ein Turner in jeder Millisekunde, wo im dreidimensionalen Raum er sich gerade befindet. Doch auch wenn Ziesmer ahnte, dass da etwas schiefzugehen drohte, hielt er sich an die erste Turnerregel, die besagt: Führe eine Bewegung immer zu Ende. „Wenn man abbricht, passiert in 99 Prozent der Fälle mehr als wenn man weitermacht“, sagt er. Ziesmer gehörte zu der absoluten Minderheit, bei der es sich andersherum verhält: Er schlug mit dem Nacken auf und brach sich zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel das Rückgrat.

An die erste Turnerregel hält sich Ziesmer trotzdem weiter. Er wendet sie seit dem Unfall aufs ganze Leben an, wenn auch in leicht abgewandelter Form: Führe die Bewegung weiter und bleib aktiv, aber sei bereit, bei Bedarf die Richtung zu ändern. Noch im Krankenhaus, in dem Ziesmer zehn Monate verbrachte, beschloss er statt Elektrotechnik Biotechnologie zu studieren, um mehr über Lähmungen und mögliche Therapiemöglichkeiten zu erfahren.

Während andere das Studium in dreieinhalb Jahren absolvieren, hat es bei ihm aufgrund seines Handicaps fünfeinhalb Jahre gedauert. Seine Abschlussarbeit hat Ziesmer selbst abgetippt, „mit Einfinger-Suchsystem“ sagt er, „es dauert, aber irgendwann ist man auch fertig“.

Ende Oktober 2011 war es soweit: Ronny Ziesmer bekam seinen Bachelor. Nun kann er sich noch mehr in der Stiftung engagieren, die er vor fünf Jahren begründet hat. Die „Allianz der Hoffnung“ soll die Forschung in Sachen Nervenzellenregeneration weiter voranbringen.

Als Ziesmer im Jahr 2008 für das Fernsehen die Olympischen Spiele kommentierte, fiel ihm wieder einmal auf, wie schwer es ist, Nichtturnern das Turnen nahezubringen. Zum Beispiel bei einem Doppelsalto rückwärts mit zwei Längsachsendrehungen: Als Turner, sagt Ziesmer, sehe man jede Rotation, normale Zuschauer dagegen sähen da einfach etwas durch die Luft fliegen. Ähnlich verhält es sich, wenn man Ziesmer bei Alltagsverrichtungen betrachtet. Allein um ein Glas zu heben, muss er sich konzentrieren, all seine Kräfte mobilisieren und die Bewegung ganz bewusst ausführen. Doch wenn man ihn anschaut, sieht man einfach nur einen Mann, der etwas trinkt – die Anstrengung dabei bemerkt man nicht. Turnen sei „Körperbeherrschung in Vollendung“ sagt Ziesmer über das Turnen. Dieser Satz gilt auch für sein Leben: Er kann nur drei Bewegungen – den Arm bis zur Schulter heben, den Ellenbogen beugen und das Handgelenk aufrichten. Und trotzdem führt er ein weitgehend normales Leben. Als neulich Neurologen und Informatiker zweieinhalb Tage zusammen saßen, um darüber zu sprechen, wie man die Sichtung von Studien mit Computerhilfe automatisieren könnte, war Ronny Ziesmer ununterbrochen dabei. Und das obwohl selbst Sitzen für ihn mühsam ist, weil er keine Mittelkörpermuskulatur hat.

Natürlich, sagt er, habe er aus den fast 20 Jahren Leistungssport mental etwas mitgenommen – Disziplin zum Beispiel, Konzentration auf das Wesentliche und den festen Willen, trotz Rückschlägen weiterzukämpfen. All diese Fähigkeiten hat er aktiviert, als das passierte, was nicht nur ein Rückschlag, sondern der „größte Tiefschlag bisher“ war. „Selbst wenn etwas Verdrängung dabei ist“, sagt er, „ich schaue nur nach vorne.“ Und dort in der Zukunft sieht er, dass sich sein Olympia-Traum von einst vielleicht erfüllt. 2016 will Ziesmer bei den Paralympics in Rio de Janeiro antreten. Aber nicht wie beim Marathon mit dem Handbike, sondern mit dem Rennrollstuhl. Um den schnell zu fahren, braucht es eine bestimmte Technik am Greifreifen. „Das kann bis zu einem Jahr dauern, bis man sie beherrscht“, sagt Ziesmer. Andere wären nicht erfreut über solche Aussichten, Ziesmer dagegen sieht begeistert aus. Gerade diese geistige Herausforderung, der technische Anspruch daran, sagt er, würden ihm gefallen.

Beides kennt Ronny Ziesmer schließlich vom Turnen.

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