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Jubeln für Europa. Jan Schlaudraff (rechts) und Christian Schulz feiern Konstantin Rausch für seinen Treffer gegen die Bayern. Foto: dapd

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Sport: Das ganz große Abenteuer

Hannover 96 spielt die beste Saison der Vereinsgeschichte und schielt sogar auf die Champions League

Selbst an einem Tag wie diesem, an dem ihm so gut wie alles gelungen war, blieb Konstantin Rausch nicht vom Gefühl des Scheiterns verschont. Bayerns Sportdirektor Christian Nerlinger und etliche Spieler der Münchner hatten das Stadion längst verlassen, da wurde Rausch, der Mann aus dem linken Mittelfeld von Hannover 96, gebeten, doch bitte seine Eindrücke aus der Kabine zu schildern. Es war Viertel vor sechs, das Spiel seit einer guten halben Stunde beendet, aber Rausch konnte leider nicht mit Detailkenntnissen glänzen. „Ich hab’s noch nicht in die Kabine geschafft“, berichtete der 20-Jährige, der mit einem Tor und einer Vorlage am 3:1-Sieg gegen die Bayern beteiligt gewesen war. Rausch war nach dem Abpfiff von Kamera zu Kamera gelotst worden.

In Hannover herrschte Ausnahmezustand. Kurz vor Ende des Spiels hatten sich die Zuschauer von ihren Sitzen erhoben, sie sangen „Oh, wie ist das schön“, und die Menschen auf den Tribünen hielten ihre Fotohandys in die Waagerechte, um den Augenblick im Breitbandformat für die Ewigkeit festzuhalten. „Vielen Dank für diese emotionalen Momente“, sagte Hannovers Trainer Mirko Slomka später. „Das hat uns sehr beflügelt.“

Ein Sieg gegen die großen Bayern wirkt, unabhängig von deren Verfassung, immer wie ein Aufputschmittel. Das gilt auch für Hannover. Nach einer langen Inkubationszeit scheint die Stadt nun doch infiziert zu sein von den Erfolgen ihres Sportvereins von 1896. Die Stimmung ist gekippt, nachdem die Klubführung vor kurzem noch eine gewisse Reserviertheit in der Bevölkerung beklagt hatte. Der Zauber des Moments hat sich letztlich als stärker erwiesen. „Die ganze Saison ist wie ein großes Abenteuer“, sagt Verteidiger Christian Schulz. Das 3:1 gegen Bayern war bereits der 15. Saisonsieg – so viele hat 96 noch nie geschafft. „Im Moment läuft es außerordentlich gut“, sagt Jan Schlaudraff.

Hannovers wundersamer Aufstieg ist die größte Erfolgsgeschichte dieser Saison. Nur zur Erinnerung: 96 ist jener Verein, der in der vorigen Spielzeit nach dem Selbstmord seines Torhüters Robert Enke ins Bodenlose zu stürzen schien. Slomka startete sein Engagement als Trainer vor einem Jahr mit sechs Niederlagen am Stück und rettete die Mannschaft erst am letzten Spieltag vor dem Abstieg. Die allgemeine Wertschätzung würde noch ein bisschen größer ausfallen, wenn nicht Dortmunds Tanz durch die Institutionen alles überstrahlte. Dabei sprechen die Zahlen für sich: Borussia Dortmund steht derzeit vier Plätze und 19 Punkte besser da als zum selben Zeitpunkt der vergangenen Saison. Die Hannoveraner haben sogar 27 Punkte mehr als vor einem Jahr und in der Tabelle 13 Plätze gut gemacht.

Wo soll das noch hinführen? Neun Spieltage vor Saisonende hat sich die Mannschaft auf Platz drei festgesetzt. „Deswegen müssen wir jetzt nicht durchdrehen“, sagt Slomka. Aber wenn seine Mannschaft die Position bis zum Schluss behauptet, würde 96 im Sommer um die Qualifikation für die Champions League spielen. „Gott im Himmel“, sagt Jan Schlaudraff zu solchen Überlegungen.

Aber warum eigentlich nicht? Innenverteidiger Emanuel Pogatetz findet, dass die Mannschaft zu Recht da steht, „wo wir stehen“. Und die weiteren Aussichten sind so schlecht nicht. Aus dem alten Adel der Liga sind allein die Bayern als Konkurrent der 96er übrig geblieben; nach dem direkten Duell vom Samstag aber liegen sie bereits fünf Punkte zurück. Und fast alle anderen Verfolger – Mainz, Nürnberg, Freiburg – hatten vor der Saison ähnliche Ambitionen wie 96: Sie wollten nicht absteigen. „Wir haben uns in der Tat vorne festgesetzt“, sagt Slomka. „Die Abstände nach hinten werden größer. Das ist gut so.“

Die Hannoveraner werden nun wohl Wochen erleben, in denen die Stimmung verlässlich zwischen Euphorie und übertriebener Vorsicht schwankt. Im Moment dürfen sie sich als Begünstigte des Augenblicks fühlen. Es funktionieren sogar Kunststücke, die so unwahrscheinlich sind, dass sie niemand ernsthaft versuchen würde. Gegen die Bayern lief bereits die Nachspielzeit, als Torhüter Ron- Robert Zieler vor dem Strafraum mit dem Fuß klären musste. Der Ball flog 50 Meter quer über den Platz, senkte sich Richtung Coaching-Zone der Bayern – und prallte genau gegen eine Trinkflasche, die dort auf dem Rasen stand. Ein solches Ziel aus einer derartigen Entfernung zu treffen, widerspricht allen Regeln der Wahrscheinlichkeit. Aber davon lassen sich die Hannoveraner im Moment nicht stören.

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