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Sport: Das ist doch der Gipfel

Wer an der Kletterwand über sich hinauswächst, schafft das auch im Alltagsleben, sagen Alpinisten. Deswegen versuchen sich auch in Berlin immer mehr Menschen am Berg. Und das mitten in Wedding – in einem Gebirge aus der Retorte.

FREIZEIT: KLETTERN IN BERLIN – EIGENE GRENZEN ÜBERWINDEN

Man soll sich ja nicht hängen lassen. Außerdem geht das hier zehn Meter runter. Klettertrainer Oliver sichert am Boden – von oben ähnelt er einer Comicfigur. Wie eine Spinne kommt sich unsereins vor, Arme und Beine weit ausgestreckt. Und die Finger? Feucht. Lieber nochmal in den Magnesiumbeutel hinten an der Taille fassen.

„Sieht doch schon ganz gut aus“, ruft Oliver Lotze hoch. Der 29-Jährige hat gut reden. Der junge Mann aus Hohenschönhausen studiert in München Sportwissenschaft und hat sich schon an zahlreichen Gipfelkreuzen der Welt fotografieren lassen. Jetzt macht er ein Praktikum bei „Magic Mountain“, der größten Kletterhalle Berlins und einer der führenden in Europa. Klettern liegt im Trend: Allein der Verein Alpinclub Berlin – einer von vier Klettervereinen in der Stadt – hat dieses und vergangenes Jahr je 350 Neumitglieder begrüßt. Insgesamt sind 10 000 Berliner in Alpinvereinen organisiert. Die „Magic Mountain“-Halle mit über 2500 Meter künstlicher Wand und mehr als 300 Routen wurde vor genau einem Jahr eröffnet. Seitdem haben rund 60 000 Besucher Stiefel und Sandalen gegen die engen Kletterschuhe getauscht. Mit den Besucherzahlen ist Eide Dücker, der 35-jährige Inhaber und Geschäftsführer von „Magic Mountain“ zufrieden. Schließlich hat der junge Entrepreneur, der die Idee für das Indoor-Gebirge aus den USA mitbrachte, die Wirtschaftsdaten für das Klettercenter in den Jahren 1998/99 erstellt. Lange vor dem 11. September, und auch bevor abzusehen war, dass die Stadt Berlin es mal nötig haben würde, beim Bund um Finanzhilfen zu klagen. Aber Geld hilft nicht in jeder Lage weiter. Hier an der Wand in schwindelnder Höhe sind jetzt vor allem Konzentration und Kraft gefragt.

Den Körper spüren, Kräfte mobilisieren, Grenzen überwinden, vom Alltagsstress loslassen – darum geht es beim Klettern, sagt Eide Dücker. Wer sich am Berg überwindet, dem gelingt das auch in anderen Lebenslagen. Also das Körpergewicht auf den Füßen stabilisieren – sie tasten sich auf den bunten Vorsprüngen vorwärts. US-Designer Christian Griffith hat die Berliner Rocky Mountains aus der Retorte entworfen. Eine Kunststoffmischung in warmen Naturfarben schmiegt sich auf eine Stahl-Holz-Konstruktion. In London und Amsterdam trainieren Hobby- und Profi-Alpinisten an solchen Kunstwänden, in Paris und in Zürich. Berliner reisen in die Alpen, nach Mallorca, in den Yosemite-Park: extreme Grenzerfahrung im oft monotonen Lebensalltag.

Stephanie Oppel kann über Langeweile am Arbeitsplatz nicht klagen. Die junge Frau aus Marzahn ist Auszubildende zur Sport- und Fitnesskauffrau – eine von zwei Lehrlingen, die Dücker beschäftigt. „Schon früher hat es mich auf die Bäume gezogen“, sagt die 20-Jährige. Heute organisiert sie Kurse, Dienstplan und die „Magic-Mountain“-Kindergeburtstage mit Kuchen und Kletterei. Sie lernt auch am Tresen zu bedienen, die Buchführung zu machen, die Mitglieder von Fitnessstudio sowie Sauna zu betreuen – und berät natürlich die Kletterneulinge.

„Brehms Tierleben“ heißt die Anfängerroute, und das bedeutet, dass man sich nur an diesen grünen Halterungen in Tierform festhalten darf. Aber der nächste Griff ist so schrecklich weit entfernt. „Los, du schaffst das“, macht Trainer Oliver Mut. Nochmal zum Gipfel schauen. Die Rolle an der Wand, durch die das Sicherungsseil führt, soll selbst 120-Kilo-Kerle halten. Rien ne va plus. Es geht doch ums Loslassen. Schwer hängt der Körper im Sicherungstrapez: Oliver lässt die Anfängerin ganz behutsam am Seil hinab. Hinunterschweben macht mindestens genauso viel Spaß wie raufkraxeln.

Annette Kögel

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