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Sport: Das Loch im Sommer

Alle wollen, dass Jürgen Klinsmann bleibt – er will sich erst einmal von allen verabschieden

Berlin - Man muss sich das so vorstellen: Letzter Schultag, vorn sitzt der Klassenlehrer und verteilt die Zeugnisse an seine Schüler. 23 sind es. Dass sie nicht anwesend sind, ist zwar komisch, aber auch nicht mehr so wichtig. Denn obwohl sie noch eine Prüfung zu bestehen haben, am Urteil ihres Klassenlehrers über sie ändert es nichts mehr. Alle 23 sind versetzt, mit den allerbesten Noten. Das Problem ist nur, niemand der 23 weiß, ob sie ihren Lehrer auch nach den Sommerferien noch haben werden. Das weiß nicht einmal der Lehrer selbst.

92 Prozent der Deutschen wollen, dass Jürgen Klinsmann Bundestrainer bleibt. Seine Spieler wollen es, und, na klar, auch die Spitzen aus Politik und Verband. Selbst seine Kritiker wollen Klinsmann als Bundestrainer behalten. Wo also ist das Problem?

„Ich habe gesagt, dass ich ein paar Tage Zeit haben möchte“, sagt Jürgen Klinsmann, „und die hat man mir auch zugestanden.“ Der 41-Jährige wird nach der WM in seine zweite Heimat Kalifornien fliegen. Dort wird er die Ereignisse der vergangenen acht Wochen, die er mit der Mannschaft gemeinsam verbracht hat, sacken lassen, wie er erzählt, und dann wird er sich mit seiner Familie beraten und eine Entscheidung bekannt geben. Das kann dauern.

„Meine Person ist absolut unwichtig, die Mannschaft ist wichtig“, hatte er noch vor wenigen Tagen gesagt. Klinsmann irrte. Längst hatte sich der Eindruck übergreifend durchgesetzt, dass Klinsmann der wichtigste Mann ist. Es ist sein Projekt. Dass es am Ende nur zum kleinen Finale reicht, wird allgemein lediglich als Schönheitsfehler gedeutet. Und je näher das WM-Ende rückt, desto mehr beschäftigt die Nation sich mit der Frage: „Kann dieses angefangene Projekt ohne seinen Projektleiter funktionieren? Die Antworten sind einhellig.

Klinsmann hat die Umfrageergebnisse zur Kenntnis genommen, und er hat vom klaren Votum seiner Spieler gehört. „Bei Umfragen ist es so, dass sie angenehmer sind, wenn sie positiv sind“, sagt er vorsichtig. Nur zögernd lässt er sie an sich heran. Schließlich findet er einen unverfänglichen Dreh. Er nimmt sie als „Kompliment“. Na bitte – und?

Nein, Klinsmann will und wird die alles entscheidende Frage nicht jetzt und nicht hier beantworten. Er sagt nur: „Mir ist es lieber, Komplimente zu bekommen, als eine Wohnsitzdebatte zu haben.“ Dann lächelt er, aber jeder sieht, was er denkt. Die Wohnsitzdebatte also, die reich an Absurditäten war. Gefühlte 92 Prozent der Deutschen, einschließlich der Hinterbänkler des Bundestages, hatten von Klinsmann zwei Jahre lang verlangt, seinen Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit im Sommer 2004, dann vor dem Confed-Cup im Sommer 2005, nach den unbefriedigenden Spielen im Herbst 2005 und zu Beginn des WM- Jahres 2006. Er hat es nie getan. Aber er hat auch diese Diskussion nie vergessen.

„Jürgen hat das Dilemma, dass er Abhängigkeiten geschaffen hat gegenüber dem Team“, sagte Torwart Jens Lehmann. Die Spieler seien begeistert von seinen Methoden und von seinem Stil, alle waren topmotiviert bei diesem Turnier. Wenn Klinsmann sich entscheiden sollte, nicht weiterzumachen, „wäre die Enttäuschung sehr groß“, hat Lehmann gesagt. Er gab aber auch zu bedenken, dass der Trainer viel Kritik einstecken und einen Spagat zwischen Familie und Beruf durchstehen musste. „Wir werden nichts von ihm fordern“, sagte Lehmann, „bei Jürgen würde es sowieso im falschen Ohr landen.“

Da ist es vielleicht schon gelandet. Klinsmann möchte nicht über sich reden. Er redet lieber über die Spieler und hört sich an wie ein Lehrer. „Man muss viel investieren in die jungen Spieler, man muss Geduld haben und ihnen viel Vertrauen geben“, sagt Klinsmann. Er freue sich enorm über die Entwicklung seiner Spieler. Über Per Mertesacker, Philipp Lahm und Lukas Podolski zum Beispiel, die bei der WM ihren Durchbruch geschafft hätten und jetzt in den Blickfang internationaler Klubs gerückt sind. Podolski wurde gerade von der Fifa als bester Nachwuchsspieler des Turniers gewählt. „Der Kerl ist so positiv, so voller Energie und Willenskraft – er wird sich toll weiterentwickeln“, sagt Klinsmann.

Noch einmal wird seine Mannschaft auftreten, heute, in Stuttgart, im Spiel um Platz drei gegen Portugal. Der Bundestrainer sagt, dass sich alle noch einmal „Mühe geben“ werden, dass alles noch einmal „mobilisiert wird“. Die Stimmung sei nach dem Halbfinal-Aus wieder auf dem Weg nach oben. Und Klinsmann erzählt, wie sehr er sich freue auf den Sonntag, wenn die komplette Mannschaft und er sich in Berlin bei den Fans bedanken und verabschieden wollen. Es werden Emotionen dabei sein, sagt Klinsmann, und vermutlich auch Tränen. „Wenn sie kommen, dann kommen sie.“

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