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Sport: Das Märchen aus dem Morgenland

Sebastian Vettel gewinnt den Strategiekrimi von Abu Dhabi und wird jüngster Weltmeister der Formel-1-Geschichte

Von Christian Hönicke

Der Mond leuchtete sein schönstes Gelb, aber etwa 400 000 Kilometer unter ihm, in der arabischen Wüste, leuchtete jemand noch ein bisschen heller. Es war Sebastian Vettel, der gerade vom Star zum Superstar aufgestiegen war. Mit einem wundersamen Sieg im 19. und letzten Rennen der Saison in Abu Dhabi hatte der Heppenheimer doch noch den schon verloren geglaubten Titel geholt und war soeben der jüngste Weltmeister der Formel-1-Geschichte geworden. Nun torkelte er jubelnd durch eine Menschentraube in der Garage seines Rennstalls Red Bull, auf dem Kopf hatte er ein leuchtend rotes Plüschrind, auf das unablässig Sektflaschen entleert wurden. „Ich kann gar nicht glauben, dass das heute alles passiert ist“, sagte Vettel mit glasigen Augen.

Nach dem wichtigsten seiner nun zehn Grand-Prix-Siege vor dem McLaren-Duo Lewis Hamilton und Jenson Button hatte der 23-Jährige unter seinem Helm hemmungslos geschluchzt. „Danke, ich liebe euch“, stammelte er über den Boxenfunk seinem Team zu, als er erfahren hatte, dass seine virtuelle Aufholjagd erfolgreich gewesen war. Bis zuletzt war er ahnungslos gewesen, ob er die 15 Punkte Rückstand auf den WM-Führenden Fernando Alonso würde gutmachen können: „Ich wusste überhaupt nichts, bis ich über die Ziellinie fuhr.“ Und Teamchef Christian Horner ein deutsches Wort ins Mikrofon brüllte: „Weltmeister!“ Nach dem ersten Siegestaumel bedankte sich Vettel bei allen Förderern von seiner Großmutter bis zu Red- Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, der zum Finale angereist war und das Rennen mit den Worten kommentierte: „Zum Schluss hatten wir mehr Glück als Verstand. Aber das passt schon.“

Vettel dankte vor allem Renault, und dafür hatte er doppelten Grund: Der Renault-Motor in seinem Heck hatte entgegen allen Befürchtungen die 55 Runden durchgehalten, und die Renault-Stammfahrer Robert Kubica und vor allem Witali Petrow hatten auf den Rängen fünf und sechs großen Anteil daran, dass Ferrari-Pilot Alonso nicht den vierten Platz erreichte, der ihm bei einem Sieg Vettels zum Titel gereicht hätte.

Bei seiner Fahrt an der Spitze des Feldes hatte der Deutsche hin und wieder auf die Bildschirme entlang der Strecke gelinst. „Manchmal habe ich da einen Ferrari hinter einem Renault gesehen, und dann dachte ich mir: Ist das Alonso?“ Er war es. Der große Favorit hatte sich in einem packenden Strategiekrimi verspekuliert und fuhr schließlich nur als Siebter über die Ziellinie des Yas Marina Circuit.

Mit einer langen Umarmung bedankte sich Vettel auch bei Michael Schumacher. Wenn man es genau nimmt, war es nämlich der Rekordweltmeister gewesen, der die WM entschieden hatte – mit einem Crash, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Schumacher kam zwar wie die vier Titelanwärter unfallfrei durch die erste Kurve, dann aber drehte er sich beim Duell mit seinem Mercedes-Teamkollegen Nico Rosberg und wurde vom Force-India-Piloten Vitantonio Liuzzi regelrecht aufgespießt. Schumacher entging einer Enthauptung durch Liuzzis Vorderrad nur um wenige Zentimeter. „Das war schon ein Moment, in dem man kurz in sich geht und versucht, sich so klein wie möglich zu machen“, sagte er erleichtert.

Schumachers Unglück war Vettels Schlüssel zum Glück. Die folgende Safetycar-Phase nutzten nämlich diverse Piloten aus dem Hinterfeld dazu, ihren frühen Pflichtboxenstopp einzulegen, darunter Rosberg und der Renault-Pilot Petrow. Während die beiden WM-Kandidaten Vettel und Hamilton an der Spitze davonzogen, lag Alonso zunächst auf dem ominösen vierten Rang vor seinem vermeintlich härtesten Titelrivalen, Vettels Teamkollegen Mark Webber. Doch dann setzte Webber alles auf eine Karte. Er trat mit einem frühen Reifenwechsel ein Strategiedurcheinander los und trug damit ebenfalls entscheidend zum Triumph seines Stallrivalen bei. Nach dem Stopp versuchte er im hinteren Feld, die benötigte Zeit auf Alonso bis zu dessen Stopp aufzuholen. Der Australier zwang Ferrari auf diese Weise zum entscheidenden Fehler: Er lockte Alonso ebenfalls früh in die Box. „Wir hatten keine Wahl“, sagte der enttäuschte Alonso. „Wenn wir nicht an die Box gekommen wären, hätte uns Webber womöglich überholt.“

So hing der Spanier danach hinter den nach vorn gespülten Rosberg und Petrow fest. Der Russe, der in dieser Saison bevorzugt Schrott und Spott produziert hatte, war plötzlich Vettels uneinnehmbares Bollwerk im Titelkampf. Alonso rannte wütend an, vorbei aber kam er nicht, weil der Renault zumindest auf der Geraden zu den schnellsten Wagen zählt. Der Geschlagene zeigte sich später zunächst als schlechter Verlierer und bedachte den tapferen Petrow mit obszönen Gesten, weil der „zu aggressiv“ gefahren sei. Später fügte sich Alonso in sein Schicksal. „Er hat auch nur sein Bestes versucht, es war alles fair und sauber“, stellte er resignierend fest. „So ist der Rennsport. Da kannst du nur gratulieren.“

Sebastian Vettel hörte es gern. „Es war eine unglaublich harte Saison, besonders mental“, sagte er, während er in Gedanken noch einmal alle technischen und menschlichen Patzer durchging, die ihm widerfahren waren. „Aber ich habe nie aufgehört, an mich zu glauben. Ich habe diese Weltmeisterschaft nur einmal angeführt, aber genau jetzt zählt es.“

Dann wollte er endlich feiern. „Ich denke, es wird Tageslicht geben, bevor ich schlafen gehe“, erklärte er grinsend, bevor er sich im Mondlicht zur Garage aufmachte.

Dort warteten schon sein Team und sein völlig aufgelöster und von Sekt durchnässter Vater Norbert auf ihn. Gemeinsam begossen sie den Triumph, während AC/DCs „TNT“ und dann Queens unvermeidliches „We are the Champions“ durch die Garage wummerten. Als der Schaumwein den Boden der Box vollends bedeckt hatte, fuhr das Garagentor herunter, kam aber nicht ganz bis auf den Boden, weil ein Luftblasegerät im Weg lag. So blieb ein Spalt offen und ließ das Gejohle und Gesinge hinaus in die Nacht. Direkt neben dem Tor stand einsam eine Boxentafel mit der simplen Botschaft: „Vettel 1“. An diese Kombination wird sich die Formel 1 gewöhnen müssen.

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