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Sport: Das Märchenkontrastprogramm

Weder bei Schweizern noch bei Österreichern ist unbändige Vorfreude auf die EM auszumachen. Neben den Problemen der eigenen Mannschaft vermiest ihnen vor allem der Dauerregen die Stimmung

Heinz Palme hat alles unter Kontrolle, was man unter Kontrolle haben kann. „Als Ausrichter muss man für eine gute Organisation und Sicherheit sorgen“, sagt der EM-Koordinator der österreichischen Bundesregierung. Zwei Faktoren kann auch er nicht beeinflussen: das Wetter und den Erfolg der eigenen Mannschaft. Palme, selbst Projektmanager im Organisationskomitee der WM 2006, weiß, dass letztere beide erst das deutsche Sommermärchen ermöglichten: „Die haben das Turnier in den Himmel gehoben.“

Betrachtet man es so, sind die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Märchens in der Schweiz und Österreich nicht berauschend. Während 2006 pünktlich zu Beginn der Spiele ein Dauerhoch einsetzte, als sei Franz Beckenbauer persönlich eine Liaison mit dem Wettergott eingegangen, werden die Alpennachbarn zum Turnierbeginn von einem nicht enden wollenden Dauerregen heimgesucht, und die Temperaturen sind für die Jahreszeit auch zu kühl.

Vor allem im Süden und Osten Österreichs prasselt es dieser Tage unentwegt vom Himmel – und dadurch fallen nicht nur ganze Trainingseinheiten der Teilnehmer ins Wasser, sondern sinkt auch die Stimmung. Und an den Eingängen der gigantischen Fanzone zwischen Hofburg, Parlament und Rathaus in Wien könnte es heute noch das nächste Gewitter geben: In der Hausordnung der ausrichtenden Uefa steht nämlich, dass nicht nur „Rucksäcke, Rollschuhe oder Tetra-Packungen“ nicht durch die Einlasskontrollen kommen, sondern auch Regenschirme draußen bleiben müssen. Das Dilemma dämmert den Organisatoren nun – in Salzburg sind bereits lastwagenweise Regenjacken herangeschafft worden, „tropf-, brand- und feuersicher nach den Bestimmungen des Veranstaltungsgesetzes“, betont Koordinator Wolfgang Weiss. In Innsbruck gibt es Regenponchos – für fünf Euro das Stück.

Damit kostet die schützende Plastik fast genauso viel wie ein Bier. 4,50 Euro muss man in den Public-Viewing-Bereichen für einen halben Liter Bier blechen, Fruchtgummi kostet drei, Schokoriegel zwei Euro. Kein Wunder, dass die Wirtschaftskammer Österreichs die Wertschöpfungseffekte durch die EM auf 640 Millionen Euro schätzt. Dazu passt wiederum nicht die bescheidene Beflaggung: Nur wenige rot-weiß-rote Fahnen hängen – wenn überhaupt – tropfnass an den Autos.

In der Schweiz haben sie immerhin ihren Lieblingsspruch zur EM auf T-Shirts mit ihren Nationalfarben drucken lassen: „Freude herrscht“, ist darauf zu lesen. Es handelt sich um ein Zitat aus einem Telefonat, das der ehemalige Bundespräsident Adolf Ogi mit dem Astronauten Claude Nicollier während dessen Mission im Weltraum führte. Freude sollte doch nun auch wieder herrschen, jetzt, da die Europameisterschaft im eigenen Land beginnt und der Gastgeber heute das Eröffnungsspiel bestreiten darf. Die EM ist für das kleine Land etwas Epochales, was es seit der WM 1954 nicht mehr gegeben hat.

Tatsächlich redet das ganze Land über Fußball, sämtliche Werbeaussagen sind auf die Europameisterschaft zugeschnitten, die EM begegnet einem auf jedem Meter. Und doch ist die Vorfreude nicht ungetrübt, weil sich die „Nati“, wie die Schweizer ihr Auswahlteam zärtlich nennen, mit vielen Problemen und Unwägbarkeiten herumplagt. Zudem gibt der Gesundheitszustand von Alice Kuhn Anlass zur Sorge. Die Frau von Nationaltrainer Jakob „Köbi“ Kuhn liegt nach einem epileptischen Anfall auf der Intensivstation; die Nation macht sich Sorgen um sie und den Mann, der die wichtigste Mannschaft des Landes zu Ruhm und Ehre führen soll. Dieses Thema ist nur eines von mehreren, welches die Schweizer zumindest im Vorfeld davon abhält, eine Euphorie zu entfachen, die auch nur in die Nähe dieses Ausnahmezustands kommt, der Deutschland vor zwei Jahren erfasste.

Das ist schade, denn es ist viel unternommen worden, um sich und die Gäste in Stimmung zu versetzen. So hat eine der wichtigsten Schweizer Banken in 16 Städten Arenen errichtet, in denen jeweils mindestens 3500 Fans Public Viewing und Konzerte geboten bekommen. Im Zürcher Hauptbahnhof stehen elf Figuren, die auf 17 Meter Höhe aufgeblasen worden sind und Spieler der teilnehmenden Länder darstellen. Während des Berufsverkehrs morgens um acht und abends um sechs schreien sie in ihrer Landessprache: „Los Jungs, das packen wir!“ Für die Schweizer Elf steht Tranquillo Barnetta in der riesigen Halle und verbreitet lautstark Optimismus. Wenn er heute gegen die Tschechen Taten folgen lässt, könnte das für seine bislang doch recht reservierten Landsleute vielleicht der Anlass sein, ihre Zurückhaltung abzulegen und doch noch in einen EM-Taumel zu verfallen.

Beim Nachbarn erwartet kaum jemand ein Stimmungshoch durch sportliche Heldentaten. Zwar wird der ORF als einzige öffentlich-rechtliche Station in Europa alle 31 Spiele live zeigen, doch die wichtigste Dreiviertelstunde ist vermutlich schon am Freitagabend um 22 .35Uhr über die Mattscheibe geflimmert. „Das Wunder von Wien“ hieß die Satire, in der Österreich Deutschland im Halbfinale schlägt und Europameister wird. Es ist ziemlich bezeichnend für den einen Gastgeber der EM, dass ein Sommermärchen in der Fiktion versendet wird – in der Realität wird es kaum stattfinden.

In Wien trägt sogar die Fanmeile – bei der WM 2006 der größte Stimmungsmacher – zum Unmut bei. Im ersten Bezirk sprechen Besucher wie Bewohner von Verschandelung, seit das 100 000 Quadratmeter große Areal mit meterhohem Stahlgitter und schrillen Werbebannern in den historischen Kern der Hauptstadt gehauen wird. Der schöne Rasen vor dem Heldenplatz ist schon zerstört – von den Lastwagen, die durch das nasse Grün pflügen, weil alles in Windeseile errichtet werden muss. „Es geht geradeso auf“, gesteht Michael Drachsler von der Organisationszentrale. Es wird bis zur letzten Minute der Eröffnung heute um neun Uhr geschraubt, gehämmert – und geflucht.

Noch immer ist der Ärger darüber nicht verraucht, dass ein Areal für 70 000 feier- und trinkfreudige Besucher nicht auf der Donauinsel unweit des Ernst-Happel-Stadions errichtet wurde. „So etwas in der teuersten und besten Gegend der Stadt zu machen, ist deppert“, schimpft Helga Hiden, Besitzerin eines Cafés am Opernring. Reinhard Krieg, Inhaber eines Fischspezialitäten-Geschäfts, hat sich für die radikale Lösung entschieden: „Wir haben ab 8. Juni zwei Wochen Betriebsurlaub.“ Viele Stammkunden hätten sich abgemeldet, Bewohner die Altstadt verlassen. Und ist es nicht bezeichnend, dass das große EM-Banner am Prater wegen des Sturmtiefs abgenommen werden musste? Dafür trägt die große altägyptische Anubis-Statue am Heldenplatz ein rotes Trikot – Ex-Nationaltorhüter Michael Konsel hat es dem Totengott übergezogen. Vielleicht taugt die entstellte Statue ja als Wettergott: Die Meteorologen sagen auch für die nächste Woche anhaltende Niederschläge voraus – die EM wird zumindest wettertechnisch das Kontrastprogramm eines Sommermärchens. Vermutlich war es vom ORF ziemlich klug, das „Wunder von Wien“ vorab zu drehen.

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