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Warten auf neue Legenden. Das Wembley-Stadion, hier beim Länderspiel England gegen Deutschland 2007.

© dpa

Das neue Wembley-Stadion: Herz ohne Schlag

Das neue Wembley-Stadion ist schön, aber es hat keine Identität. Noch sucht es seine Bedeutung - das Champions-League-Finale zwischen Barcelona und Manchester könnte das nun zumindest ein wenig ändern.

London - Über London spannt sich die Hoffnung. Sie ist 134 Meter hoch und 317 Meter lang, doch sie reicht viel weiter. Sie reicht in die Zukunft, bis in die Geschichten, die Großeltern ihren Enkeln erzählen werden, hinein in die Köpfe und Herzen kommender Generationen. Anlass für diese Hoffnungen gab das Spiel der Spiele, das gestrige Champions-League-Finale zwischen Manchester United und dem FC Barcelona, den besten Fußballklubs des neuen Jahrtausends. Ihr Aufeinandertreffen sollte dem neuen Wembley-Stadion und dem gigantischen Stahlbogen darüber das geben, was ihm noch fehlte: eine eigene Geschichte.

Natürlich, Wembley, das war 77 Jahre lang der Tempel des Sports, Pelé nannte es einmal „das Herz des Fußballs“, obwohl er nie dort spielte. Doch 2003 wurde das Herz herausgerissen. Ein neues wurde zwar vier Jahre nach dem Abriss an die gleiche Stelle gepflanzt. Doch es fühlte sich künstlich an.

Äußerlich ist das neue Wembley-Stadion eine Augenweide aus Beton, Stahl und Glas, kein Vergleich zu den anonymen Arenen, die in den vergangenen Jahren europaweit entstanden sind und statt Geschichte Sponsorennamen mit sich herumtragen. Doch innen ist es leer, es fehlt an Gefühl, auch wenn einige bunte Sitzschalen im roten Rund die Buchstabenfolge „We love Wembley“ bilden. Hier sucht ein Stadion noch seine Seele.

Dabei lässt das neue Wembley keine Wünsche übrig, allein gestern versorgte es die Fans mit bis zu 61 000 Bechern Bier, mit Wiederholungen auf Videoschirmen so groß wie 600 Farbfernseher und bot 2618 Toiletten zur Erleichterung an. Das alte Wembley war am Ende verfallen, feucht, mit veralteten Sanitäranlagen, es stank nach Bier und Urin, die Sicht aufs Feld war auf vielen Plätzen bescheiden. Doch nicht in der Erinnerung. Als das Stadion mit den berühmten Twin Towers 2003 nach langen Diskussionen abgerissen wurde, steckte vielen Londonern ein Kloß im Hals.

Dabei sollte es schon kurz nach dem Bau 1923 wieder abgerissen werden, man hatte das Empire Stadium für eine Kolonialausstellung errichtet, in nur 300 Tagen, für 750 000 Pfund.

Es blieb und mit ihm kamen die Legenden: Das FA-Cup-Finale 1923, zu dem 200 000 Menschen strömten und das nur angepfiffen werden konnte, weil ein Polizist auf einem weißen Pferd das Feld räumte. Die „King’s Speech“, die der spätere König Georg VI. hier stotterte und die jüngst verfilmt wurde. Der 10 000-Meter-Weltrekordler Emil Zatopek, der erste olympische Held der Nachkriegsgeschichte. Der Kriegsgefangene Bert Trautmann, der hier Manchester City 1956 als Keeper den Pokalsieg rettete, mit gebrochenem Genick. Wembley wirkte Wunder.

England wurde im eigenen Wohnzimmer 1966 Weltmeister und erzielte ein spektakulär irreguläres Tor. Evel Knievel sprang mit seinem Motorrad über 16 Doppeldeckerbusse und brach sich das Becken. Johan Cruyff nährte unter den Türmen den Traum vom Sieg des schönen Fußballs, als Spieler 1971 mit Ajax Amsterdam und als Trainer 1992 mit Barcelona. Für die Engländer endete er 1996 mit der Halbfinalniederlage im Elfmeterschießen und dem EM-Titel Deutschlands. Überhaupt die Deutschen: Dietmar Hamann gab mit dem letzten Tor das alte Wembley 2000 zum Abriss frei.

Nach den Geschichten, von denen die Türme des alten Wembley wispern könnten, wenn sie noch stünden, kann sich der Bogen nur sehnen. Ein Stadion lebt und atmet seine Geschichten, es ist ein Resonanzraum für die Freuden und Ängste, die Fans hier durchlebt haben. Brian Kidd, 1968 Europapokalsieger mit United in Wembley, gewann jüngst als Assistenztrainer Manchester Citys den FA-Cup und klagte: „Ich glaube nicht, dass es die gleichen Gefühle bei mir auslösen wird. Die Anlagen und die Umkleidekabinen sind besser, aber das alte Wembley war einzigartig. Die Twin Towers und der Wembley Way, der alte Geruch der Hot Dogs...“

Das Finale von gestern mit einem fabelhaft unglaublichen FC Barcelona – das ist der Stoff, aus dem Wembley neue Legenden weben könnte. Dominik Bardow

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