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Sport: Das Prinzip Odonkor

Wie der Fußball in Kreuzberg Tag für Tag Integrationsarbeit leistet – abseits von Gipfeln im Kanzleramt

Berlin - Es ist ja nicht so, als wüsste man nicht, was Sport alles anrichten kann, im Positiven wie im Negativen. Man kann erahnen, dass Sport Menschen zusammenhalten lässt, zusammenwachsen lässt, und so überrascht es nicht, dass Thomas Bach, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, zu einem der 80 auserlesenen Gäste gehörte, die am Freitag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Integrationsgipfel geladen waren. Bach kündigte für den DOSB „neue, innovative Schwerpunkte“ an, etwa, um sportliche Integrationsprojekte in sozialen Brennpunkten zu fördern.

Für Mehmet Koc sind solche Projekte weder neu noch innovativ – er macht sie einfach. Der 42-Jährige steht mit Stoppuhr und Trillerpfeife um den Hals am Rand des Fußballfelds im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg. Seine Mannschaft, die D-Jugend von KSF Umutspor, ist an diesem Tag zum Freundschaftsspiel angetreten. Während das Spiel läuft, erzählt er eine Geschichte, die ihn beinahe hätte alles hinwerfen lassen. Es geschah beim Kreisklassen-Pokalendspiel. Umutspors vierte Herrenmannschaft traf auf Neukölln-Rudow. Das Spiel war hart, der Schiedsrichter überfordert. Ein Spieler von Umutspor brach sich das Bein. Nach dem Spiel überschlugen sich die Ereignisse. Zuschauer, die Umutspor zugerechnet wurden, gingen auf die gegnerische Mannschaft und den Schiedsrichter los, auch Spieler waren an der Keilerei beteiligt. Das Ganze hatte ein Nachspiel vor den Strafgerichten und vor dem Sportgericht des Berliner Fußball-Verbands. Umutspor drohte der Ausschluss.

Ein oder zwei Spielabbrüche pro Wochenende sind in den Berliner Amateurligen zum Normalfall geworden. Oft sind Mannschaften mit türkisch klingendem Namen beteiligt. Hinter vorgehaltener Hand sagt mancher deshalb, man solle diese Klubs einfach rauswerfen, dann sei das Problem gelöst. Das ist so, als würde man im Nachbarhaus Feuer bemerken, und statt beim Löschen zu helfen, macht man die Fenster zu.

Umutspor durfte bleiben, Koc machte weiter. Schließlich hatte der Klub mit der „Vierten“ nur versucht, was er schon seit Jahrzehnten erfolgreich betreibt: Integrationsarbeit. Und dabei treten in Kreuzberg eben mehr Konflikte auf als in Grunewald. Ein Drittel der rund 100 000 Mitglieder des Berliner Fußball-Verbands stammt aus Migrantenfamilien, im Jugendfußball ist der Anteil deutlich höher. Die meisten spielen in kleinen Klubs wie Umutspor: drei Herren-, neun Jugendmannschaften, zu wenig Geld und zu wenige Helfer an allen Enden. Ohne Menschen wie Mehmet Koc, die jeden Tag auf dem Platz stehen, wäre die Arbeit jetzt schon nicht zu bewältigen – nicht nur, was den Sport betrifft. Koc kennt die Zeugnisse seiner Jugendlichen, oft muss er auch noch bei Problemen in der Familie helfen. Er ist Fußballtrainer, aber auch Vaterersatz, Sozialarbeiter und Lehrer. Zum Beispiel für die Sprache: Alle Kinder in der D-Jugend von Umutspor kommen aus türkischen Familien, doch der Trainer spricht Deutsch mit ihnen. „Zu Hause lernen die meisten es ja nicht“, sagt er.

Mehmet Koc hat den Klub 1978 mitgegründet, ohne ihn hätte der Verein kaum so lange überlebt. „Umut“ heißt auf Deutsch „Hoffnung“. Vor kurzem hat eine Mutter Koc gefragt, wie viel Geld er für seine Arbeit bekomme. Die Antwort erstaunte sie: nichts. Im Gegenteil, Koc zahlt noch drauf. Er tut das gern, doch das Mindeste, was er erwartet, ist ein wenig Anerkennung. Gerade hat er wieder drei Stunden am Telefon gehangen, weil der Verband dem Verein für die neue Saison nur zwei Trainingstage zugewiesen hat. „Das Schlimmste ist, dass unsere Arbeit keine Wertschätzung erfährt“, sagt Koc.

Ewald Lienen kann das kaum fassen. Der studierte Pädagoge war Fußballtrainer unter anderem bei Hannover 96, Hansa Rostock und dem 1. FC Köln. „Das Geld, das wir ausgeben, um die Folgen misslungener Integration zu bekämpfen, ist um ein Vielfaches höher als das, was wir für die Arbeit in den Vereinen brauchen.“ Lienen fordert, jedem Verein mit einer größeren Jugendabteilung einen Sozialarbeiter zur Seite zu stellen. „Der Sport ist nicht die Reparaturwerkstatt der Gesellschaft“, sagt Lienen. „Aber die Möglichkeiten, die er bietet, werden von der Politik bisher verschenkt.“

Die WM hat der Fußballbegeisterung in Deutschland Auftrieb gegeben – auch in Kreuzberg. Zwar gibt es keinen türkischstämmigen Spieler in der deutschen Nationalelf. Dennoch taugen die Spieler als Identifikationsfiguren. Mit Podolski oder Asamoah können sich Kreuzberger Kinder leichter identifizieren als früher mit Lothar Matthäus und Andreas Brehme. „Ein Junge wie Odonkor, der könnte doch auch hier in Kreuzberg rumlaufen“, sagt Mehmet Koc.

Viele, die jetzt kommen, sehen in ihren Kindern schon neue Odonkors. Etwa der Vater, der seinen Sohn bei Mehmet Koc anmelden wollte. Der Junge war ganz in Weiß gekleidet, neueste Nike-Kollektion. „Ich habe gehört, Sie sind ein guter Trainer“, sagte der Vater. „Machen Sie aus meinem Sohn einen guten Fußballer.“ Mehmet Koc schickte den Mann weg. „Unsere Aufgabe ist es nicht, gute Fußballer zu produzieren. Wenn wir Glück haben, werden es gute Menschen.“

Steffen Hudemann

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