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Sport: Das schwache starke Geschlecht

Bei der Eisschnelllauf-WM in Berlin werden die deutschen Herren nicht einmal hinterherlaufen

Berlin. Ohne Seitenwinde bitte, forderte Jens Boden unlängst, als er am Flughafen Schönefeld in das Cockpit einer Boeing 737 stieg. Der Eisschnellläufer sollte starten und landen, und da er weder das eine noch das andere jemals gemacht hat, versteht sich auch seine Bitte, bei diesen Manövern den störenden Wind möglichst nicht blasen zu lassen. Boden saß in einem Flugsimulator der Lufthansa, weshalb ihm dieser Wunsch erfüllt werden konnte. Das Gerät simulierte einen Start, und nach einer kleinen Schleife durfte er drei- oder viermal landen. „Ein geiles Gefühl“, sagte Boden, „es reizt mich, später etwas mit Zivilluftfahrt zu machen.“

Der 24-Jährige aus Dresden tut gut daran, sich bereits jetzt um seinen weiteren beruflichen Werdegang zu kümmern. Beim Eisschnelllaufen lief es in dieser Saison nicht für ihn. Zu allem Überfluss musste er gestern – genau wie Routinier Frank Dittrich aus Chemnitz – für die heute um 13 Uhr im Sportforum Hohenschönhausen beginnende Einzelstrecken-WM absagen. 24 Stunden vor dem 5000-m-Rennen gaben die beiden nach einem Trainingstest am Donnerstag wegen der Nachwirkungen grippaler Infekte ihren Verzicht bekannt.

Boden und Dittrich, ohnehin einzige Hoffnungen der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) auf vordere Platzierungen im Männer-Bereich, waren Mitte Februar bei einem Weltcup erkrankt. „Inzwischen sind beide wieder gesund, aber die Form ist noch nicht ausreichend“, erklärte Trainer Klaus Ebert: „Bei einer WM im eigenen Land sollte man nur antreten, wenn man sich ordentlich präsentieren kann. Schade bloß, dass wir ein Jahr umsonst gearbeitet haben.“ Vor allem für Dittrich ist die Absage schmerzhaft. Der 35-Jährige hatte seine Abschiedsvorstellung in Berlin geplant und hegt noch die leise Hoffnung auf eine Teilnahme an der 10 000-m-Entscheidung am Sonntag, falls die Erholung in den verbleibenden beiden Tagen rasch voranschreitet. „Wir werden am Samstag entscheiden“, sagte Ebert. Ob Dittrich, der bei Olympia 2002 in Salt Lake City wegen Problemen mit der Höhenanpassung enttäuschte, seine Karriere fortsetzt, ist offen. „Über dieses Thema haben wir bislang nicht gesprochen“, sagte der Trainer.

Die Absagen sind der traurige Höhepunkt einer enttäuschenden Saison. Während die Damen in all ihren jeweiligen Disziplinen Chancen auf einen WM-Sieg besitzen, hätte sich Chefbundestrainer Helmut Kraus bei den Männern bereits über zehnte Plätze gefreut. „So geht es nicht weiter“, sagt Kraus, „die Schmerzgrenze ist erreicht.“

Vor 13 Monaten war Boden der letzte Erfolg eines deutschen Eisschnellläufers gelungen. Überraschend hatte er bei Olympia in Salt Lake City Bronze über 5000 Meter geholt – die erste Medaille für die deutsche Mannschaft. Die Leistung steigerte seinen Bekanntheitsgrad, ein lokales Autohaus und ein Nahrungsergänzungsmittel-Hersteller kamen als Werbepartner hinzu. Doch seit Salt Lake City ging es bereits wieder bergab. Zu Saisonbeginn startete er noch in der A-Gruppe, inzwischen nur noch in der B-Gruppe. „Ich bin abgestiegen“, sagt Boden.

Das gleiche gilt für die anderen deutschen Eisschnellläufer. Die Situation empfindet Joachim Franke, der Trainer von Claudia Pechstein, als Besorgnis erregend: „Im Selbstlauf werden unsere Herren bis zu Olympia in Turin nicht mehr in die Spitze stoßen.“ Kraus glaubt, dass das gemeinsame Training mit den Damen die Entwicklung der Herren hemmt. „Es ist offensichtlich, dass viele Herren dadurch stagnieren“, sagt Kraus.

Vielleicht beschreibt die Nominierung des Berliners Michael Künzel am besten, wie groß das Dilemma ist. Der 29-Jährige reduzierte in dieser Saison sein Trainingspensum stark, inzwischen konzentriert er sich auf sein Studium. Trotzdem ist er im Sportforum einziger DESG-Starter auf der 500-Meter-Strecke. Künzel sagt: „Ich verstehe nicht, dass ich noch der Beste bin.“

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