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Schmutzig gegen sauber? Usain Bolt (l.) und Justin Gatlin werden klare Rollen zugewiesen.

© rtr

Das Sportjahr 2015 im Rückblick: Usain Bolt gegen Justin Gatlin: Um die Seele der Leichtathletik

Bei der Leichtathletik-WM in Peking kam es 2015 zum großen Duell zwischen Usain Bolt und Justin Gatlin. Für Lars Spannagel war der Fall vor dem 100-Meter-Finale klar: Bolt musste gegen den ehemaligen Doper die Seele des Sports verteidigen.

Er hält sich erst einmal zurück, da können die Zuschauer im Olympiastadion von Peking noch so laut jubeln und noch so viel blitzen mit ihren Fotoapparaten und Smartphones. Usain Bolt winkt vor seinem Vorlauf ins Rund des Vogelnests und deutet mit zwei Fingern einen Spaziergang über eine imaginäre Laufbahn an. Das war’s. Eigentlich hätte der Jamaikaner Grund für eine viel größere Geste. Schließlich möchte das Publikum den Weltstar im Rennen über 100 Meter siegen sehen. Und viele Zuschauer im Stadion und an den Fernsehgeräten auf der ganzen Welt wollen noch mehr von ihm: Usain Bolt soll am heutigen Sonntag die Leichtathletik retten. Vor sich selbst. Vor dem Doping. Vor allen Dingen aber vor Justin Gatlin.

Der US-Amerikaner, der bereits zweimal wegen Dopings gesperrt war, ist an diesem Samstag einen Vorlauf vor Bolt gestartet. Gatlins Zeit wird mit 9,83 Sekunden gestoppt, Bolt kommt nach 9,96 Sekunden ins Ziel gejoggt, beide erreichen mühelos das Halbfinale. „Es war noch nicht so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte“, sagt Bolt. „Aber ich wollte noch nicht wirklich schnell laufen, sondern so viel Energie wie möglich sparen.“ Am Sonntag um 15.15 Uhr deutscher Zeit (live in der ARD und bei Eurosport) wird er vermutlich all seine Kraft brauchen, um Gatlin im Finale über 100 Meter zu besiegen. Und damit einen Geist der an Gespenstern nicht gerade armen Leichtathletik auszutreiben.

Bolt ist in Peking zurück an dem Ort, an dem für ihn alles begann. Vor sieben Jahren wird er innerhalb weniger Tage zum Weltstar. Bei den Olympischen Sommerspielen 2008 gewinnt er Gold über 100 Meter, 200 Meter und mit der jamaikanischen Sprintstaffel, jedes Mal leuchtet nach dem Rennen auf der Anzeigetafel im Vogelnest „WR“ auf, Weltrekord. Bolt wird auf einen Schlag berühmt und reich – und er wird noch schneller. Bei der WM 2009 bricht er auf der blauen Bahn des Berliner Olympiastadions seine eigenen Weltrekorde, den über 100 Meter verbessert er auf 9,58 Sekunden, vor und nach den Rennen tanzt und lacht er wie ein großes, übermütiges, glückliches Kind, die Welt lacht mit ihm.

Usain Bolt, der Clown, hat viele Herzen mit seinen Faxen gewonnen. Das war aber nur möglich, weil Bolt, der Jahrhundertathlet, die Menschen wieder für die Leichtathletik begeistern konnte. Trotz aller Dopingfälle, trotz Vertuschung und Korruption im Weltverband IAAF. In seiner Schlichtheit ist kein sportlicher Wettkampf dem Menschen so nah wie der Sprint über 100 Meter – auf geht’s, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Allerdings ist auch keine Disziplin so anfällig für Doping.

Zwei Tage vor seinem ersten Start hält Usain Bolt Hof in einem noblen Pekinger Hotel. Der jamaikanische Leichtathletik-Verband und Bolts Ausrüster Puma – der ihm dem Vernehmen nach jährlich zehn Millionen US-Dollar zahlt – haben zur Pressekonferenz geladen, etwa 200 Journalisten und Dutzende Kamerateams aus der ganzen Welt sind gekommen. Vor Bolts Auftritt läuft über die Lautsprecher Bob Marleys „One Love“ in Endlosschleife, let’s get together and feel alright. Dann schlendert der größte Star der Leichathletik auf die Bühne und fläzt sich auf das schwarze Ledersofa. „Es ist eine große Freude für mich, wieder hier in Peking zu sein“, sagt er und grinst sein berühmtes Grinsen. Seine Form? Exzellent! Sein langsamer Start? Im Training erfolgreich bekämpft! Die Leistenprobleme? Längst vergessen!

Bolt gegen Gatlin: "Gut gegen Böse" um die "Seele der Leichtathletik"?

Dann lässt der Moderator Fragen aus dem Auditorium zu, gleich die erste Reporterin will von Bolt wissen, ob es im Kampf Bolt gegen Gatlin um die „Seele der Leichtathletik“ gehe. Plötzlich ist der Jamaikaner konzentriert, er setzt sich kerzengerade hin und antwortet mit großem Ernst. „Ich laufe für mich selbst“, sagt er. „Es gibt viele andere Athleten da draußen, die sauber sind. Es hängt also nicht von mir ab, sondern ist die Verantwortung aller Sportler.“ Der nächste Reporter fragt, ob der Kampf Bolt gegen Gatlin der Kampf „Gut gegen Böse“ sei. Bolt vermeidet es, sich direkt zu seinem Konkurrenten zu äußern. „Ich versuche nur, das Richtige zu tun, die Regeln einzuhalten, hart zu arbeiten und der Beste zu sein“, sagt er. Bolt antwortet geduldig, auch wenn ihm das Thema eigentlich zum Hals heraushängt. „Die ganze Zeit, alle Fragen: immer nur Doping, Doping, Doping“, sagt er. „Das ist traurig.“ Aber wenn es die Regeln zuließen, dass jemand wie Gatlin in den Sport zurückkehren dürfe, müsse er das akzeptieren. „Dann wird er neben mir an der Startlinie stehen und ich muss gegen ihn antreten“, sagt Bolt. „Ich halte mich an die Regeln, das ist alles.“

Acht der zehn schnellsten Sprinter der Geschichte wurden wegen Dopings gesperrt

Nach allem, was man weiß, hält sich Usain Bolt tatsächlich an die Regeln. Er ist nie bei einer Dopingprobe auffällig geworden. Zu Beginn seiner Karriere wurde er verdächtigt – zu außergewöhnlich waren seine Leistungen. Es gibt keinen konkreten Hinweis darauf, dass Bolt dopt. Außer natürlich die offensichtliche Tatsache, dass er schneller läuft als je ein Mensch zuvor, auch wenn das viele mit Hilfe allerlei illegaler Praktiken versucht haben. Acht der zehn schnellsten Sprinter der Geschichte wurden irgendwann in ihrer Karriere einmal wegen Dopings gesperrt, nur Bolt und sein Landsmann Nesta Carter nicht. Lange Zeit gab es auf Jamaika kein wirkliches Kontrollsystem. Wieso soll ausgerechnet der Schnellste der Schnellen der einzig Saubere sein?

Eine mögliche Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man Bolt mit eigenen Augen sprinten gesehen hat – ein Ereignis, das man so schnell nicht vergisst. Sein Laufstil ist einzigartig, mühelos, ein Weltwunder des Sports. Bolt läuft aufrechter und kraftsparender als seine Konkurrenten, er braucht über 100 Meter rund vier Schritte weniger als sie. Dabei sieht er immer so aus, als sei alles für ihn nur ein Wettlauf unter Jungs auf dem Weg zum Kaugummiautomaten oder zur Hängematte. Bolt rennt nicht, Bolt schwebt, gleitet, fliegt. Ein Großteil der Leichtathletik-Welt hat inzwischen anscheinend beschlossen, dass Bolt nicht betrügt – weil das Mutter Natur bereits für ihn erledigt hat.

Justin Gatlin wurde bereits zwei Mal positiv getestet

Bei Justin Gatlin, dem Olympiasieger von 2004 und Weltmeister von 2005, liegen die Dinge ein wenig anders. Zweimal wurde der Amerikaner positiv getestet, eine lebenslange Sperre umging er nur, weil er als Kronzeuge gegen seinen Trainer aussagte. Trotzdem musste er vier Jahre lang pausieren – und kehrte schneller denn je zurück. Gatlin ist seit 2013 ungeschlagen, in 27 Rennen über 100 und 200 Meter hat er als erster die Ziellinie überquert. In der aktuellen Weltjahresbestenliste belegt er über 100 Meter die Plätze eins bis vier, seine Bestzeit in diesem Jahr liegt bei 9,74 Sekunden. Damit ist er ganz formal der Favorit, denn Bolt war in diesem Jahr nach allerlei körperlichen Schwierigkeiten noch nicht schneller als 9,87 Sekunden.

Effekt von Steroiden auf Muskeln hält auch nach Jahren ohne Doping an

Gatlin ist in der Form seines Lebens, im Alter von 33 Jahren, wenn die allermeisten Sprinter ihren Zenit überschritten haben. Er läuft deutlich schneller als zu den Zeiten, als er nachweislich gedopt war. Gatlin selbst begründet das mit seiner vierjährigen Pause, in der sich sein Körper vom Spitzensport erholen konnte und damit biologisch erst 29 Jahre alt ist, also so alt wie Bolt tatsächlich. Eine Studie der Universität Oslo legt eine andere Erklärung nahe: Die Wissenschaftler bewiesen an Mäusen, dass der Effekt von Steroiden auf Muskeln auch nach Jahren ohne Doping anhält. Selbst der äußerst diplomatische neue IAAF-Präsident Sebastian Coe hat kürzlich gesagt, er habe beim Gedanken an Justin Gatlin als Weltmeister ein „mulmiges“ Gefühl.

In Peking macht sich Justin Gatlin rar. Weder sein Ausrüster noch das US-Team präsentieren ihn der Öffentlichkeit. Lediglich mit der Nachrichtenagentur Reuters hat er gesprochen, am Telefon. Ihm sei es wirklich egal, was die Leute denken, hat Gatlin über das Duell mit Bolt gesagt: „Ich bin nur ein Läufer und er ist nur ein Läufer. Es gibt keine guten oder bösen Läufer. Niemand versucht, die Weltherrschaft zu übernehmen. Niemand will die Welt in die Luft jagen.“

Was passiert, wenn Usain Bolt scheitert und Justin Gatlin sich krönt?

Die Welt steht nicht auf dem Spiel, wohl aber das Ansehen und vielleicht auch die Zukunft der Leichtathletik. Fans auf der ganzen Welt lieben Bolt, fast im Alleingang hat der Jamaikaner dafür gesorgt, dass die Leichtathletik im Wettbewerb mit anderen Sportarten noch relevant und aufregend ist. Dass Leute auf der ganzen Welt den Fernseher einschalten und Tickets für die Stadien kaufen. Was passiert, wenn Bolt scheitert und Gatlin sich krönt? Was kommt nach Bolt, wenn er wie angekündigt im kommenden Jahr nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro seine Karriere beendet? Oder – viel schlimmer noch – wenn er zuvor doch bei einer Dopingprobe erwischt würde? Knapp zehn Sekunden, egal ob am Ende 9,83 oder 9,74 oder gar ein neuer Weltrekord von 9,57 Sekunden auf der Anzeigetafel aufleuchten, sollen über die Seele der Leichtathletik entscheiden, über das Gute und Wahre im Sport. Das ist viel verlangt für ein Rennen und für einen einzelnen Menschen. Selbst für Usain Bolt.

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