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Sport: Das Wort Angst ist verpönt

Schwer gestürzte Skirennfahrer sind heute auf der "Streif" in Kitzbühel wieder dabei VON SEBASTIAN ARLTKitzbühl.Die gelben Spuren im Schnee trügen nicht.

Schwer gestürzte Skirennfahrer sind heute auf der "Streif" in Kitzbühel wieder dabei VON SEBASTIAN ARLT

Kitzbühl.Die gelben Spuren im Schnee trügen nicht.Ein paar Meter weg von dem kleinen Zelt, in dem auf 1320 Metern Höhe notdürftig ein Starthäuschen installiert wurde, haben sich einige Fahrer vor ihrem Start noch etwas erleichtert.Aber der Druck auf der Seele ist geblieben, bevor sie sich den Hang hinabstürzen bei den beiden Sprintabfahrten auf der "Streif" in Kitzbühel.Daß es am Freitag nur die halbe "Wahrheit" ist, daß diesmal unterhalb der "Alten Schneise" gestartet wird, die gefürchtete "Mausefalle" aber erst einen Tag später zuschnappt, wenn die komplette Strecke von 3200 Metern Länge gefahren wird - das Kribbeln im Bauch der tollkühnen Männer auf ihren rasenden Brettern ist dennoch groß.Und das Warten auf das Startkommando wird wie immer zum Martyrium.Kein Wunder, schließlich erreichen die Rennläufer auf der 1250 Meter langen Strecke, wenn sie über die "Hausbergkante" (70 Prozent Neigung) in Richtung Zielschuß fliegen, Geschwindigkeiten von über 150 Stundenkilometern.Die Bestmarke stellte diesmal der Kanadier Cary Mullen mit 150,21 Stundenkilometern auf.Die Sprünge gingen bis 90 Meter weit.Nervenkitzel Abfahrtslauf, Rausch der Geschwindigkeit.Altmeister Karl Schranz charakterisiert das gefährliche Spektakel so: "Für die Besten ist es ein Vergnügen, für einige eine Mutprobe - für die meisten ist es eine Abfahrt in die Angst." Wobei das Wort Angst verpönt ist, es wurde aus dem Wortschatz gestrichen."Respekt vor der Strecke", diese Sprachregelung hat sich eingebürgert.Aber Kopf und Seele, der ganze Körper wissen das nicht.Manchmal wehrt sich der Körper, zittert, wenn der Fahrer ins Zelt hineingleitet, an dessen Ende die Luke und der Abgrund warten. Hochsensibel wie Rennpferde sind sie alle vor der gut eine Minute langen Abfahrt ins Ungewisse."Nur nachdenken darfst net", hat Olympiasieger Patrick Ortlieb über seine Gedanken vor dem Start gesagt.Jetzt steht der Österreicher da, auf seine Stöcke gestützt, die Augen geschlossen.Bevor er als Achter hinuntergschickt wird, läßt er die Strecke wie in einem Film innerlich ablaufen.Kurven, Sprünge.Unwillkürlich macht der Körper die Bewegungen mit.Ganz allein ist der Österreicher, kein Betreuer ist bei ihm.Anders der Schweizer Bruno Kernen, der sich noch etwas den Nacken massieren läßt.Doch der Servicemann ist eher ein Masseur für die Seele.Kernen hat nach seiner Gehirnerschütterung, erlitten bei einem Sturz vor einer Woche in Wengen, immer noch einen Brummschädel.Aber er muß runter."Das ist reine Therapie, du mußt einen Sturz möglichst schnell überwinden." Das geht einem Dieter Thoma nach einem Sturz beim Springen nicht anders als einem Andreas Wecker, wenn er mal vom Reck abgeschmiert ist.Mund abputzen, weitermachen. Der Geschwindigkeitsrausch als Droge, von der man nicht mehr loskommt.Die Gescheiterten kommen immer wieder.So wie der Kanadier Brian Stemmle, der 1989 in "Kitz" in die Fangnetze knallte, sich einen Beckenbruch und Unterleibsverletzungen zuzog und danach vor Gericht Schadenersatz von den Veranstaltern erstritt.Oder der Deutsche Stefan Krauss (1990 Lendenverletzungen, Gehirnerschütterung, Nasenbeinbruch), oder der Italiener Pietro Vitalini, der 1995 über die zwei Meter hohen Fangzäune abhob und nur knapp an einem Telefonmast vorbei in den Tiefschnee flog.Sie alle stehen wieder oben, mehr oder weniger blaß um die Nase.Die letzten Handlungen, leichte Lockerungsübungen, sind automatisiert. Dann gibt es kein Zurück mehr.Der Weg durchs Zelt kommt einem eng wie durch eine Röhre vor.Nur im Unterbewußtsein wird die Hand des Starters registriert, die sich auf die Schulter legt."Drei, zwei, eins - los!"

SEBASTIAN ARLT

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