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Sport: Das Wunder bei Bern

Der überraschende Aufstieg des FC Thun

An den Ufern des Thunersees ist die Zeit stehen geblieben. Das Stadion ist auf den Namen „Lachen“ getauft, gerade 10350 Zuschauer passen herein. Für nur 774 von ihnen gibt es Sitzplätze, und bevor sich das alles einmal in ferner Zukunft ändert, ist eine Volksabstimmung für einen Stadionneubau vonnöten. Und doch ist diese Arena ein besonderer Ort. Denn hier ist der FC Thun zu Hause, der FC Thun, der 1898 gegründet wurde und 2005 zur größten Sensation im Schweizer Fußball ausholte: Er qualifizierte sich für die Champions League. Morgen werden sich die Berner Oberländer in der Arena von Amsterdam gegen einen weiteren übermächtigen Gegner aufzulehnen versuchen – so wie sie es in London bei Arsenal taten, als sie bis zur 92. Minute das 1:1 hielten. Und wieder fragen sich die Fans am Thunersee: Ist nach dem 1:0-Heimsieg gegen Sparta Prag noch eine Sensation möglich?

Der Aufstieg der Thuner löste eine für die Schweiz seltene Sympathiewelle aus. Die Thuner, die für europäische Auftritte nach Bern ausweichen müssen, schafften es auf Anhieb, das neue Stade de Suisse mit mehr als 30000 Zuschauern bis auf den letzten Platz zu füllen. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass sie in Thun Fußball in der Anonymität der Zweitklassigkeit spielten und zum 100-jährigem Bestehen in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten gerieten. Der überschuldete Klub entkam nur knapp dem Ruin. Die Wende trat ein, als Hanspeter Latour im Winter 2000/2001 zurück nach Thun fand, ein leidenschaftlicher, emotionaler, witziger Trainer. Er formte aus dem damals nicht beachteten Klub der Nationalliga B einen Aufstiegsanwärter. Geld war kaum vorhanden, aber Latour brachte es fertig, den Fußball in Thun 2002 erstklassig zu machen und auch wieder bei jenen Schweizern ins Gespräch zu bringen, die die Region vornehmlich wegen ihrer Idylle schätzten.

Im Dezember 2004 folgte Latour dem Lockruf der Grasshoppers aus Zürich, was im Umfeld Befürchtungen provozierte, Thun werde jetzt zerfallen und wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Als Sportchef Werner Gerber den arbeitslosen Urs Schönenberger als Nachfolger verpflichtete, stieg die Zuversicht nicht eben. Aber Schönenberger, ein Asket mit einer gradlinigen, strengen Art, führte die Latour’sche Arbeit fort. Er beendete die Meisterschaft mit Thun als Zweiter. Und in der Qualifikation für die Champions League schalteten seine Spieler zuerst Dynamo Kiew und dann Malmö aus. Thun statt Basel in der Champions League – die Schweizer konnten es nicht fassen. Plötzlich war nur noch vom „FC Wunder“ die Rede.

Diese Überraschung war auch das Verdienst von Werner Gerber. Der langjährige Sportchef, der erst seit diesem Sommer offiziell angestellt ist und für seine Arbeit Geld bekommt, haderte nach dem Abgang verschiedener Leistungsträger nicht, sondern flog nach Südamerika und fand neue Spieler. Die kannte zwar in Europa kein Mensch, doch ihre gehobenen fußballerischen Qualitäten sprachen sich bald herum.

Dass sich der Verein nicht zu Eskapaden verleiten lässt, darüber wacht Präsident Kurt Weder. Mit nur 5,5 Millionen Franken Jahresetat (knapp 3,5 Millionen Euro) müssen die Thuner auskommen. Nun eröffnet die Champions League neue Perspektiven, doch Weder, ein 61 Jahre alter Betriebsökonom, führt das Kleinunternehmen nach dem Grundsatz: „Wir geben nie mehr Geld aus, als wir einnehmen.“

Ganz ist die Zeit in Thun aber nicht stehen geblieben. Inzwischen leistet es sich der Verein, eine Reise zur Beobachtung eines Gegners doppelt zu besetzen. Trainer Urs Schönenberger suchte einen billigen Flug und ein günstiges Hotel und machte sich am Samstag mit seinem Assistenten Adrian Kunz nach Amsterdam auf, um sich ein Bild von Ajax zu machen.

Peter Birrer[Thun]

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