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Sport: Das Wunder von Anaheim

Wie die deutschen Turner die Olympia-Qualifikation schafften

Anaheim. Der Videowürfel, der normalerweise die Spielstände bei den Eishockey-Partien der Anaheim Mighty Ducks anzeigt, schwebte über den Köpfen im Arrowhead Pond. Groß und bedrohlich. Wie ein Damoklesschwert. Am Sonntag um 17 Uhr 40 Ortszeit in Kalifornien/USA leuchteten ein paar weiße Buchstaben und Zahlen auf. Und Ronny Ziesmer zückte seine Kamera, um ein Foto zu schießen. Als wollte er für die Ewigkeit festhalten, was dort oben zu lesen war: „12. Germany 219.132". Die geheimnisvolle Kombination beschrieb nicht irgendeinen Telefonanschluss in Deutschland, sondern eine kleine sportliche Sensation: Die deutschen Turner hatten bei der WM mit 219,132 Punkten und Platz zwölf den Sprung zu den Olympischen Spielen 2004 in Athen geschafft – obwohl sie tags zuvor nach einer ziemlich bescheidenen Vorstellung schon alle Hoffnungen aufgegeben hatten.

Dann kamen die Emotionen. Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turnerbundes (DTB) umarmte den Bundestrainer Andreas Hirsch, und der umarmte jeden Turner einzeln. DTB-Präsident Rainer Brechtken klatschte in die Hände. „Ich habe es erst geglaubt, als es dort oben stand“, sagte der Cottbuser Ziesmer. Sein Stuttgarter Kollege Thomas Andergassen befand: „Dieses Ergebnis ist genauso unglaublich wie unser Wettkampf.“ Sein Blick ließ erahnen, welche Last von seiner Seele genommen worden war. Olympia ohne eine deutsche Riege? Das hatte es noch nie gegeben.

Das „Wunder von Anaheim“ glich einem Spielfilm, bei dem es bis zum Ende nur zwei Möglichkeiten gab: Happy End oder Katastrophe. Der eine oder andere der Protagonisten dürfte die Vorstellung deshalb nur im Nebel mitbekommen haben. Den schlimmen Wettkampf, bei dem die Turner vor lauter Nervosität fast alle Reckübungen in den Sand setzten. Der erste Hoffnungsschimmer, als sich die fest als Olympiateilnehmer eingeplanten Weißrussen mit dem kaum messbaren Rückstand von zwölf Tausendstel Punkten hinter den Deutschen platzierten.

Einer unruhigen Nacht folgte ein sonniger Morgen – mit einer Schweizer Riege, die am Boden ihr Olympiaticket verspielte. Die Italiener zogen erst mit ihrer letzten Übung an den Deutschen vorbei. Und schließlich kamen noch die bulgarischen Turner, die zwar nie eine Bedrohung, aber trotzdem gefürchtet waren, weil man ja so viel erlebt hatte in diesen 24 Stunden. Es war ein Wettkampf, in dem die deutschen Turner die größten Adrenalinschübe erlebten, als sie schon gar nicht mehr an die Geräte mussten.

In den Jubel um das späte Erfolgserlebnis mischten sich allerdings auch nachdenkliche Stimmen, die deutlich machten, an welchem Abgrund die deutschen Turner vorbeigerutscht waren. „Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wie mein Leben in Zukunft aussehen wird", sagte Ronny Ziesmer, Sportsoldat wie all die anderen außer dem 15-jährigen Schüler Fabian Hambüchen. Andere dachten wohl über Ähnliches nach in diesen Stunden, in denen sie so angespannt in der Halle saßen.

Jürgen Roos

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