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Sport: Das Wunder von Verona

Fußballwetten sind in Italien ein Volkssport. Aber so haben die Italiener nicht gewettet.

Fußballwetten sind in Italien ein Volkssport. Aber so haben die Italiener nicht gewettet. Was hätte man auf einen kleinen Klub aus einem Vorort von Verona setzen sollen, der gerade einmal 6000 Einwohner hat? Und doch hat Chievo Calcio, Tabellenführer in der Milliarden-Lire-Liga, ein Wunder vollbracht. Schauplatz ist die venetische Fußballprovinz, wo die Menschen emsig arbeiten und für schillernden Sport wenig übrig haben. Selten war im apenninischen Fußballgeschäft die Einmütigkeit zwischen einem smarten Klubpräsidenten, der die väterliche Kuchenfabrik führt, und einem verbissenen Übungsleiter so groß. "Wir brauchen noch 22 Punkte, um uns vor dem Abstieg zu retten", sagt der 52jährige Luigi Del Neri, Trainer von Chievo Calcio. Luca Campedelli, sein 32jähriger Präsident mit dem Milchbubengesicht, der an das vorweihnachtliche Kuchengeschäft denkt, während er nervös an seiner Zigarette zieht, setzt eins drauf und sagt: "Die Bestellungen der Weihnachtskuchen steigen. Das macht mich glücklicher als die Tabellenführung."

Der Aufsteiger Chievo führt mit vier Punkten die Tabelle an. Juventus Turin, Inter Mailand, der Meister AS Rom sowie der AC Mailand werden vorgeführt. 107 Millionen Mark gab etwa Juventus Turin für die Verpflichtung von Torwart Gianluigi Buffon aus. 80 Millionen war dem AC Milan Spielmacher Manuel Rui Costa wert. Auf dem Papier sind alle Spieler Chievos gerade mal soviel wert wie der ukrainische Milan-Star Andrej Schewtschenko: rund 43 Millionen Mark. Kein Wunder, dass der Liga die Pleite droht. Allein im Jahr 2000 lag das Defizit der Liga, "die von den Millionen erstickt wird" ("Gazzetta dello Sport"), bei mindestens 1,4 Milliarden Mark.

Chievo hat sich innerhalb von 15 Jahren aus der fünften Liga in die Serie A vorgearbeitet. Jetzt singen Literaten Hymnen auf die Außenseiter aus dem reichen Veneto. Psychologen mutmaßen über die mentalen Stärken der Spieler. Soziologen spekulieren über gesellschaftliche Gründe und Implikationen des Erfolgs: "Tutti parlano del Chievo !" Die Mannschaft ist nationales Gesprächsthema. "Chievo ist der Inbegriff der Spielfreude, wie es einst mein AC Milan verkörperte." So meldete sich Arrigo Sacchi zur Wort, dessen Ruhm als Fußballtrainer längst verblichen ist.

Del Neri, der zum ersten Mal eine Erstligamannschaft trainiert, nimmt die Komplimente abgeklärt entgegen und ist mittlerweile als Referent für Topmanager gefragt. Sein Erfolgsgeheimnis wiederholt Del Neri ohne Aufhebens: "Erstens: Man muss sich untereinander gut kennen. Zweitens: Man muss gemeinsame Ziele definieren. Drittens: Man muss arbeiten, arbeiten und nochmal arbeiten, wohlweislich, dass die Führungspersönlichkeit, ob Fußballtrainer oder Manager, stets glaubwürdig ist." Das hört sich in Italien so ungeheuerlich an, weil die Glaubwürdigkeit im Sport geschweige denn in der Politik kaum einen Wert darstellt.

Aus ausgemusterten Spielern wie dem Mittelfeldregisseur Eugenio Corini hat Del Neri eine echte Mannschaft geformt. Die Fußballphilosophie, die ihn und seine Spieler beflügelt, beschreibt er so: "Wir greifen immer an, weil uns so die Gegner hinterherrennen müssen. Um uns wieder einzufangen, müssen sie dabei über 70 Meter rennen. Das ist alles!" So was hört die Konkurrenz nicht gern. Sie wartet darauf. dass Chievo strauchelt. "Es ist ein schönes Phänomen, das in der ruhigen Provinz das Licht der Welt erblickt hat", unkte Roma-Präsident Franco Sensi, "aber ich weiß nicht, ob es von Dauer ist". Presidente Campedelli stört das nicht. Bald läuft das Weihnachtsgeschäft an mit dem "Pandoro". Dem süßen gelben Weihnachtskuchen.

Vincenzo delle Donne

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