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Birgit Boese, 48, führt eine Dopingopfer-Beratungsstelle in Berlin. Sie feierte als Kugelstoßerin einen Sieg bei der DDR-Spartakiade 1975. Mit 15 Jahren musste sie wegen einer Verletzung ihre Laufbahn beenden. Sie ist heute ein staatlich anerkanntes Dopingopfer.

© dpa

DDR-Dopingopfer: "Die meisten waren jünger als 16 Jahre"

DDR-Dopingopfer Birgit Boese im Interview über die Thesen von Ex-Funktionär Thomas Köhler, Pillen für Kinder und Gesundheitsfolgen bis heute.

Frau Boese, Sie waren als Jugendliche Kugelstoßerin und sind staatlich anerkanntes Opfer des DDR-Dopings. Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Es geht von Monat zu Monat schlechter. Die größten Probleme habe ich mit der Wirbelsäule. Ich kann keine fünf Minuten stehen. Dazu kommen Diabetes, Herzerkrankung, Stoffwechselstörungen. Meine Ärzte sind davon überzeugt, dass dies alles Dopingfolgen sind. Ich habe als Zwölfjährige zum ersten Mal Dopingpillen erhalten.

Als erster ehemaliger, hoher DDR-Funktionär hat Thomas Köhler, der frühere Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes, systematisches Doping zugegeben. Aber schwere gesundheitliche Zwischenfälle seien in der DDR nicht passiert. Was empfinden Sie bei so einem Satz?

Da läuft mir die Galle über. Schon zu DDR-Zeiten begannen bei vielen Sportlern die gesundheitlichen Probleme. Köhler hat bloß Glück, dass es die DDR seit 1989 nicht mehr gibt. Viele Folgeschäden sind ja erst nach der Wende massiv aufgetreten. Das ist ja ein schleichender Prozess. So kann er leicht behaupten, dass zu DDR-Zeiten nichts passiert sei.

Sie haben mit dem Sporthistoriker Giselher Spitzer die Geschichte von DDR-Dopingopfern wissenschaftlich dokumentiert. Wie viele Opfer waren jünger als 16 Jahre, als sie Dopingpillen erhielten?

Für die Dokumentation habe ich mit 80 Opfern gesprochen, die überwiegende Zahl war erheblich jünger als 16, als ihnen Dopingpillen gegeben wurden.

Köhler behauptet, unter 16 sei niemand gedopt worden. Und Sportler, die mit 16 gedopt worden seien, die seien von Ärzten besonders betreut worden.

Unsinn. Die meisten Sportler, mit denen ich gesprochen habe, sagten ganz klar, sie hätten Pillen vom Trainer erhalten. Und sie hätten nicht gewusst, was sie da schlucken.

Noch ein Köhler-Satz: „Alle Mittel wurden im Einvernehmen mit den Sportlern verabreicht.“

Nochmal Unsinn. Ich führe ja auch eine Beratungsstelle für Dopingopfer. Fast alle der rund 600 Opfer, die zu mir gekommen sind, haben erklärt, sie hätten nicht gewusst, was sie da erhalten. Und schon gar nicht hätte sie irgendjemand gefragt, ob sie das überhaupt wollen. Ich habe mich nicht getraut zu fragen, weil ich erlebt hatte, was dann passieren könnte.

Was denn?

Ein Mädchen aus meiner Trainingsgruppe beim Berliner TSC hatte eine Frage gestellt, irgendetwas ganz normales. Da herrschte die Trainerin sie an: Na, wenn Du noch Zeit und Luft für Fragen hast, dann kannst du auch noch rennen. Da musste das Mädchen nach einer vollen Trainingseinheit zur Strafe vier Kilometer rennen. Unterwegs hat sie sich vor Erschöpfung übergeben. Sie durfte nicht aufhören, sie durfte sich nicht reinigen, sie musste die vier Kilometer unter Tränen zu Ende rennen. Da hatte ich Angst, Fragen zu stellen.

Was passierte Sportlern, die sich weigerten, die berüchtigten blauen Pillen zu schlucken?

Zuerst gab es noch Kadergespräche, aber wenn das nichts genützt hat, dann sind die achtkantig aus dem Kader geflogen. Das ist dann mit fadenscheinigen Begründungen passiert. Entweder, weil der Betreffende Westradio gehört oder Westfernsehen geschaut hat oder weil er aus sonst einem Grund nicht tragbar sei. Viele Sportler haben mir erzählt, sie hätten erst Jahrzehnte nach ihrem Rausschmiss erfahren, weshalb sie eigentlich hatten aufhören müssen. Die waren ja völlig verunsichert, weil sie kein Westfernsehen geschaut und kein Westradio gehört hatten. Die waren sich keiner Schuld bewusst. Die Wahrheit haben sie dann in ihrer Stasi-Akte gelesen.

Wie viele Sportler kennen sie, die im Kader geblieben sind, obwohl sie sich weigerten, Dopingpillen zu nehmen?

Keinen einzigen.

Köhler nennt aber drei Rodlerinnen als Beweis, dass niemand rausgeworfen wurde, der sich dem Doping verweigert hatte.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Schlimm genug, dass diese drei nicht öffentlich gesagt haben, das sei Betrug.

Köhler hat sich gestern bei den Dopingopfern entschuldigt. Die Sportführung habe Fehler gemacht und Dinge unterschätzt. Nehmen Sie persönlich diese Entschuldigung an?
Nein, ich nehme sie nicht an. Und wenn er zwischen dem Schreiben des Buchs und den ersten Reaktionen auf das Erscheinen gemerkt hat, dass er Halbwahrheiten veröffentlichte, dann empfehle ich ihm, das Buch vom Markt zu nehmen. Zumindest, wenn er seine Entschuldigung ehrlich gemeint hat.

Das Gespräch führte Frank Bachner.

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