zum Hauptinhalt

Sport: Der Ball war ein Ei

Der Film über Konrad Koch, der den Fußball nach Deutschland brachte, hat mit der Realität wenig gemein

Man kann ruhig davon ausgehen, dass DFB-Präsident Theo Zwanziger, der große Freund und Förderer des Frauenfußballs, seine Freude an diesem Film hat. Kurz vor Ende von „Der ganz große Traum“ gibt es einen Dialog, der das Herz Zwanzigers vermutlich hat höher schlagen lassen. Unter den Zuschauern des vermeintlich ersten internationalen Fußballspiels auf deutschem Boden herrscht große Verwirrung, weil niemand die Abseitsregel versteht? Da meldet sich eine junge Frau zu Wort: „Sagen Sie doch einfach, dass vor dem Spieler entweder der Ball oder drei Gegner sein müssen.“

Nette Pointe, nur leider ziemlich hanebüchen. Aber „Der ganz große Traum“ erhebt keinen Anspruch auf historische Genauigkeit. Die Geschichte von Konrad Koch, der den Fußball nach Deutschland gebracht hat, ist arg auf Massentauglichkeit getrimmt worden. „Den gab es ja wirklich“, sagt der Schauspieler Daniel Brühl, der Koch im Film verkörpert. „Aber man musste ihn an der einen oder anderen Stelle ein bisschen attraktiver gestalten.“

Der Film beginnt damit, dass Koch von einer rumpeligen Postkutsche vor seinem neuen Arbeitsplatz, einem Braunschweiger Gymnasium, ausgespuckt wird: Er kommt frisch aus England und hat unter anderem einen Fußball im Gepäck. In Wirklichkeit hat Koch England erst 1895 besucht, den Ur-Ball kann er folglich gar nicht mitgebracht haben – und vermutlich war es auch kein Ball. Es war ein Ei. Was die Schüler des Martino-Katharineums am 29. September 1874 auf dem kleinen Exerzierplatz in Braunschweig spielten, war nach unserem Verständnis nicht Fußball, sondern Rugby.

„Ein Spielfilm unterliegt einer anderen Dramaturgie als eine Dokumentation“, sagt der Braunschweiger Kurt Hoffmeister, der sich seit gut 30 Jahren mit Koch beschäftigt und 1986 die erste biografische Abhandlung über ihn geschrieben hat. „Der ganz große Traum“ hat ihm trotzdem „sehr gut gefallen“ – weil das Interesse an Koch durch den Film einen großen Schub bekommen habe. „Vor zehn Jahren war ich noch Einzelkämpfer“, sagt Hoffmeister. „Auch in Braunschweig kannte man Koch nicht. Jetzt wird er immer populärer.“ Das Problem ist, dass sich wenig Material über sein Leben erhalten hat, die Quellenlage ist dürftig. „Es ist nichts übrig geblieben“, sagt Hoffmeister.

Dass Koch den Fußball nach Deutschland gebracht hat, ist ebenfalls eine historisch kaum haltbare Zuspitzung. Fußball wurde vereinzelt schon früher im Kaiserreich gespielt; aber Koch hat „den ersten systematischen Versuch unternommen, den Fußball in Deutschland heimisch zu machen“, schreibt Malte Oberschelp in seiner Biografie „Der Fußball-Lehrer“. 1875 verfasste der Pädagoge das erste Fußball-Regelwerk in deutscher Sprache – inklusive heute kurios anmutender Gesundheitsvorschriften. So sollte darauf geachtet werden, dass kein Spieler „gegen den Ostwind anzulaufen hat“.

Es war auch nicht Koch selbst, der den Anstoß zum ersten Fußballspiel auf deutschem Boden gab; es war sein Freund und Kollege, der Turnlehrer August Hermann, der auch den Ball besorgt hatte und ihn an einem Herbsttag des Jahres 1874 einfach in die Menge seiner Schüler warf. Koch stand als aufmerksamer Beobachter daneben und hat Hermann später „das größte Verdienst“ an der Einführung des Fußballs in Braunschweig zugeschrieben. In „Der ganz große Traum“ wird Hermann schlichtweg verschwiegen. „Es ist sicher ein Mangel, dass er in dem Film nicht vorkommt“, sagt Hoffmeister.

In „Der ganz große Traum“ gibt Koch den aufgeklärten Englischlehrer, der neue Lehrmethoden vertritt und immer wieder mit der alldeutschen Großmannssucht jener Zeit in Konflikt gerät. „Er war ein leidenschaftlicher Pädagoge“, sagt Hoffmeister. „Dem hat er alles untergeordnet.“ In Wirklichkeit aber unterrichtete Koch Deutsch, Geschichte und alte Sprachen; er war zwar kein Hurra-Patriot, aber durchaus national gesinnt.

Laut Oberschelp sah Koch im Fußball „ein Programm zur nationalen Ertüchtigung“, länderübergreifende Wettkämpfe lehnte er ab. Ihm ging es darum, aus dem englischen Import „ein echt deutsches Spiel“ zu machen. Koch hat mit großem Eifer deutsche Ausdrücke für die englischen Begriffe des Fußballs gesucht und erfunden und damit entscheidend dazu beigetragen, dass der Stürmer in Deutschland ins Abseits läuft, während er in Österreich und der Schweiz noch heute offside steht. Dass Fußballklubs sich Victoria, Fortuna oder gar Kickers nannten, behagte Koch ganz und gar nicht. „Mich möchte dünken, daß auch ,Wotan’, ,Siegfried’, ,Hagen’, ,Hermann’ nicht übele Taufpaten für Fußballvereine abgeben könnten.“

Andererseits sah Koch Fußball als Mittel zur Überwindung „der schroffen sozialen Gegensätze“. Dieses Thema wird auch in „Der ganz große Traum“ angeschnitten, wie so vieles in diesem Film aber ein wenig grobkörnig. Koch hat es nicht mehr erlebt, dass der Fußball ein Spiel fürs ganze Volk wurde. Als er 1911 mit 65 Jahren starb, war sein Spiel immer noch eine Domäne der Mittelschicht.

Malte Oberschelp: Der Fußball-Lehrer. Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte. Verlag Die Werkstatt, 157 Seiten, 16.90 Euro.

Kurt Hoffmeister: Der Wegbereiter des Fußballspiels in Deutschland. Prof. Dr. Konrad Koch. 1846-1911. Eine Biografie. Books on Demand, 131 Seiten, 12,80 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false