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Markus Gisdol (rechts) hat den HSV in scheinbar aussichtsloser Situation übernommen. Am Samstag feierte er mit den Hamburgern den Klassenerhalt.

© Jaspersen/dpa

Der Erfolg von Trainer Markus Gisdol: Der HSV und die unmögliche Rettung

Der Hamburger SV schien unaufhaltsam auf dem Weg in die Zweite Liga. Mit dem Klassenerhalt sichert sich Trainer Gisdol einen Eintrag in die Geschichtsbücher.

Es war eine rührende Szene, die sich abseits des Trubels abspielte, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. In einer dunklen Ecke umarmten sich zwei Menschen, der eine mit nacktem Oberkörper, der andere ganz in Schwarz gekleidet. Sie umarmten sich sehr lange und strichen sich mit den Händen fast zärtlich über den Rücken. Nach einer kleinen Ewigkeit verschwand Gotoku Sakai, der Kapitän des Hamburger SV, hinter der Absperrung. Johan Djourou, sein Vorgänger, blieb in der dunklen Ecke zurück.

Sakai war der einzige Hamburger Profi, der Djourou im Jubel über den Klassenerhalt überhaupt wahrgenommen hatte. Der Schweizer war vor drei Wochen aus dem Kader des HSV verbannt worden. Er stand nun in der Mixed-Zone auf Seiten der Journalisten und beobachte die wilden Feierlichkeiten. Als er später zu den Wolfsburgern wollte, um seinem Landsmann Diego Benaglio ein paar tröstende Worte mitzugeben, wurde Djourou von einem Ordner gestoppt. Er hatte ihn nicht erkannt. Johan Djourou gehörte nicht mehr dazu, und er unternahm gar nicht erst den Versuch, auf die andere Seite der Absperrung, zu seinen Kollegen respektive Ex-Kollegen, vorzudringen.

Der Mann, der Djourou und zwei weitere Spieler für den Gesamterfolg geopfert hatte, saß wenig später eine Etage höher im Pressekonferenzraum des Volksparkstadions. Markus Gisdol hat sein Ding durchgezogen, er ist keine Kompromisse eingegangen und hat auf Einzelschicksale wie das von Johan Djourou keine Rücksicht genommen. Der Erfolg hat ihm Recht gegeben. Am letzten Spieltag sicherte sich der HSV durch einen 2:1-Sieg gegen den VfL Wolfsburg den Klassenerhalt in der Fußball-Bundesliga. Die Wolfsburger müssen in die Relegation.

Als Gisdol und sein Wolfsburger Kollege Andries Jonker auf dem Podium Platz genommen hatten, hätte man auch bei genauerem Hinsehen nicht erkennen können, wer von beiden der Sieger war. Gisdol hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Schultern hingen schlaff herunter, als wäre jegliche Spannung aus seinem Körper geflüchtet. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich noch mal so eine Saison durchstehe“, sagte der 47-Jährige. „Wir sind ausgepresst wie eine Zitrone.“

Jede Woche habe es ein neues Endspiel gegeben, daher sei es unglaublich, „dass wir hier standgehalten haben“. Am letzten Spieltag mussten sie auch noch den letzten Tropfen aus sich herausholen. Heribert Bruchhagen, der Vorstandsvorsitzende des HSV, hielt es zwischenzeitlich nicht mehr aus und tigerte vor Aufregung durch die Gänge des Stadions. Erst zwei Minuten vor Schluss erzielte der eingewechselte Luca Waldschmidt den entscheidenden Treffer zum Klassenerhalt. Trainer Gisdol hatte eine glückliche Hand bewiesen – wie schon eine Woche zuvor, als er beim 1:1 gegen Schalke ebenfalls den späteren Torschützen kurz vor Schluss eingewechselt hatte. Aber nicht nur deshalb sagte Sportdirektor Jens Todt nach dem Klassenerhalt, „dass es eine richtig große Trainerleistung war“.

Ende September hatte Gisdol eine Mannschaft übernommen, die sich nach fünf Spieltagen erst einen einzigen Punkt erspielt hatte. Weitere fünf Spiele später war nur einer hinzugekommen – der HSV schien dem Abstieg geweiht, diesmal endgültig. „Wir waren tot“, sagte Gisdol. „Aber wir wollten, dass die Geschichtsbücher neu geschrieben werden müssen.“

Es war das zweite Mal, dass er einen hoffnungslosen Fall übernommen hat. Und man kann darüber streiten, ob es 2013 in Hoffenheim, bei seiner ersten Station als Cheftrainer, anspruchsvoller war – oder doch beim HSV? In Hoffenheim hatte er weit weniger Zeit, aber auch da gelang ihm am letzten Spieltag der entscheidende Sprung: von Platz 17 auf 16 und letztlich die Rettung in der Relegation. In Hoffenheim hatte er eine Mannschaft, die seiner Idee vom Fußball willig folgte. Das war beim HSV nur bedingt der Fall.

Nie hat der HSV über einen teureren Kader verfügt als in dieser Saison. Aber dass teure Spieler, wenn sie wahllos zusammengekauft sind, keinen gepflegten Fußball garantieren, war gegen Wolfsburg noch einmal auf dramatische Weise zu beobachten. Gisdol muss zwischenzeitlich der Verzweiflung nah gewesen sein, und nachdem alles doch noch zu einem glücklichen Ende gekommen war, bekannte er, dass er wohl „ein bisschen zu gutgläubig, zu leichtsinnig“ gewesen sei, als er das Angebot des HSV angenommen habe. Er hat sich blenden lassen, von der Geschichte des Klubs, von seiner historischen Größe. Vielleicht tröstet es ihn: Er ist nicht der Einzige beim HSV, dem das passiert ist.

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