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Sport: Der Fahrer und sein Feind

Jan Ullrich blickt zurück auf eine desaströse Saison – und plant schon für 2005

Jan Ullrich zitiert sich selbst auf seiner Homepage. „Ich bin nicht der kühl berechnende Superstar ohne Fehl und Tadel, der sein Leben Tag für Tag dem Streben nach Höchstleistung unterwirft. Ich bin ein ganz normaler Mensch mit Stärken und Schwächen, der im Laufe der Jahre Höhen und Tiefen erlebte. Aber wenn es darauf ankommt, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe und wenn viele an mir zweifeln, dann bin ich ein Kämpfer.“ Nachzulesen in seiner Autobiografie „Ganz oder gar nicht“.

Der bekannteste deutsche Radsportler steckte nach dem vierten Platz bei der Tour de France und nach den schwachen Leistungen bei den Olympischen Spielen in Athen wieder einmal im Tief der öffentlichen Meinung. Statt eine Medaille hielt er ein Bierglas in der Hand. Nonchalant kommentierte Ullrich im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ die „Kampagne“ (Manager Strohband) mit der geselligen Szene: „Letztes Jahr war ich der goldene Sieger der Herzen – und dieses Jahr bin ich eben der Bier-Ulle. Das ist das Leben.“

Man darf es dem Tour-Sieger von 1997 und Olympiasieger von 2000 glauben, dass er die verpfuschte Saison bei den Radweltmeisterschaften in Italien, beim Zeitfahren am vergangenen Mittwoch am Gardasee und beim Straßenrennen am heutigen Sonntag in Verona, zu einem versöhnlichen Abschluss bringen wollte. „Ich hatte dort auf einen Titel spekuliert. Die Form war wirklich gut.“ Ullrich war in sich gegangen und hatte sich noch einmal aufgerafft. Vielleicht auch auf Geheiß von ganz oben in der Bonner Konzernzentrale, für sein Jahressalär von rund 2,5 Millionen Euro sich gefälligst noch einmal anzustrengen. In den Vorbereitungsrennen mit einem Sieg, einem dritten und einem fünften Rang trat er eindrucksvoll in die Pedale. Doch dann schlug der größte Gegner seiner Karriere zu: das Virus. Diesmal im Darm und Magen. Ullrich sagte frustriert: „Das Virus passt zum Verlauf des Jahres.“ Verona und die Region Veneto hätten so schön zur Rehabilitierung gepasst. Wie vor fünf Jahren. 1999 hatte Jan Ullrich seine erste Krisensaison, wollte nach einem schweren Sturz bei der Deutschland-Tour und dem Verzicht auf die Tour wegen Kniebeschwerden sogar seine Karriere beenden – mit 25 Jahren. Sein damaliger Trainer Peter Becker setzte ihn wieder aufs Rennrad. Was für ein Comeback: Ullrich gewann die Vuelta, wurde in Treviso erstmals Zeitfahrweltmeister und war im Straßenrennen in Verona die dominante Figur, wenn auch ohne Medaille.

Noch grandioser war Jan Ullrichs Comeback 2003 nach dem vorangegangenen Seuchenjahr mit Knieproblemen, Unfallflucht, Führerscheinentzug, Pillenparty und Dopingsperre: Mit dem Team „Bianchi“ wurde Ullrich entgegen aller Erwartungen zum fünften Mal Zweiter der Tour. Die Wahl zum „Sportler des Jahres“ folgte. Nun stellt sich die Frage, ob nach der verkorksten Saison 2004 zum dritten Mal der Kämpfer Jan Ullrich zurückkehrt oder ob der begnadete Radrennfahrer, der noch bis 2006 bei T-Mobile unter Vertrag steht, ein satter Radprofi ist, der keine Lust mehr hat.

Der 30-jährige Rostocker verspricht wieder einmal Besserung. „Es darf mir nicht mehr passieren, dass ich im Januar Durchhänger habe.“ Wenn der persönliche Berater Rudy Pevenage seinen Schützling nächste Woche in dessen Haus in Scherzingen (Schweiz) zur Saisonplanung trifft, wird der Belgier mit Engelszungen auf den T-Mobile-Kapitän einreden, all den guten Vorsätzen wirklich auch Taten folgen zu lassen. Der Belgier glaubt unerschütterlich an den Ausnahme-Athleten. „Jan soll sich nur auf die Tour konzentrieren. Ich glaube fest daran, dass er sie noch einmal gewinnt.“ Und Ullrich sagt: „Pevenage darf nicht länger nur das fünfte Rad am Wagen sein.“ Gegen den Widerstand des Teamchefs Walter Godefroot fordert er mit Nachdruck die Rückkehr seines Mentors an die Seite des Sportdirektors Mario Kummer: „Der Sponsor will doch Ergebnisse haben. Da müssen meine Wünsche angehört und durchgesetzt werden.“

Kämpfer oder Lebemann – welchen Jan Ullrich werden wir 2005 erleben? Ganz oder gar nicht? Straft Ullrich Godefroot, der ihm unprofessionelle Vorbereitung vorwirft, doch noch Lügen? Der kritische Belgier hatte im Sommer den Tour-Sieg zur Charaktersache erklärt: „Das ist der Unterschied: Armstrong lebt für Radrennen. Ullrich fährt Radrennen, um zu leben.“ In die Charakterstudie seines Stars bezieht Godefroot auch das Beispiel Erik Zabel mit ein: „Die Professionalität Zabels und das Talent Ullrichs ergäben zusammen einen Eddy Merckx.“

hartmut Scherzer[Bardolino]

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