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Sport: Der Geist von Kiew

Von Stefan Hermanns Miyazaki. Oliver Kahn konnte sich nicht recht entscheiden: auf oder ab?

Von Stefan Hermanns

Miyazaki. Oliver Kahn konnte sich nicht recht entscheiden: auf oder ab? Mal trug er die Sonnenbrille auf der Nase, dann hielt er sie wieder in den Händen. Nicht dass die gefärbten Gläser auf dem Flug von Tokio nach Miyazaki zum Schutz gegen grelles Licht wirklich notwendig gewesen wären. Aber die bunten Brillengläser können einem selbst an trüben Novembertagen das Gefühl von toskanischem Sommerlicht vorgaukeln. Vielleicht hat Kahn ein bisschen künstliche Leichtigkeit gesucht. Aber vielleicht hat er beim dauernden Auf und Ab der Sonnenbrille auch gemerkt, dass die Realität gar nicht so grau ist, wie es zunächst schien.

Einen Tag nach dem 1:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen Irland ist der Optimismus nach Miyazaki zurückgekehrt. Die neue Geschäftsgrundlage im Mannschaftsquartier lautet jetzt: Es ist noch gar nichts Schlimmes passiert. „Man kann doch nicht davon ausgehen, dass schon nach dem zweiten Gruppenspiel der Einzug ins Achtelfinale feststeht“, sagte Teamchef Rudi Völler. Nach dem knappen Sieg Kameruns gegen Saudi-Arabien reicht den Deutschen am Dienstag ein Unentschieden, um ins Achtelfinale zu kommen. „Mit dem Ergebnis gegen Irland können wir zufrieden sein“, sagte Michael Ballack am Tag nach dem Spiel. Am Abend zuvor hatte niemand einen solchen Gedanken geäußert.

Eine Nacht lang schien alles möglich: das Ende der Harmonie, der Ausbruch allgemeinen Nervenflatterns, die große Depression. Der späte Ausgleich der Iren durch Robbie Keane und die so verpasste frühe Qualifikation für das Achtelfinale hatten die Gemüter erregt. „Wäre das Tor nach 60 oder 70 Minuten gefallen, wären wir nicht so enttäuscht gewesen“, sagte Völler. Es ist die theoretische Frage, was schlimmer ist: bei „Wer wird Millionär“ gleich an der 100-Euro-Frage zu scheitern oder bis zur Million zu kommen und dann zu scheitern.

Rudi Völler hatte fast die ganze Nacht nicht geschlafen. „Ich habe mir sogar noch eine Halbzeit reingezogen“, berichtete der Teamchef. „Es war leider die zweite.“ Da konnte er nochmal sehen, was ohnehin fast alle beobachtet hatten: dass die Mannschaft viel zu passiv spielte, dass sie den Vorsprung nur über die Zeit retten wollte, dass Ballack zwar behauptet, hundertprozentig fit zu sein, das auf dem Feld aber nicht zu sehen ist, und dass am Ende die Kräfte schwanden. „Ich habe gesehen, dass es bei einigen Spielern etwas weniger wurde, dass die Kräfte nachließen.“ Aber Völler sagt auch: „Alles darauf zu schieben, das wäre mir zu billig.“

Viel gravierender war die Erkenntnis, dass die eigentlich ach-wir-sind-ja-so-selbstbewussten Deutschen ihre neue psychische Stärke zu keinem Zeitpunkt richtig auslebten. Knapp 10 000 Iren lärmten im Kashima-Stadion für ihre Mannschaft, und „wir haben uns etwas davon beeindrucken lassen“, klagte Völler. Das lässt aus deutscher Sicht nichts Gutes befürchten für das Spiel gegen Kamerun, in dem es für die Nationalelf am Dienstag um alles oder nichts geht.

Aber die Deutschen werden in den nächsten fünf Tagen ihr großes seelisches Erbauungserlebnis beschwören: „die zehn Tage Ukraine“, von denen eigentlich sieben in Deutschland stattfanden. Als die deutsche Nationalmannschaft im vorigen November zum ersten Mal die Qualifikation für eine WM-Endrunde zu verpassen drohte, entstand der Legende nach unter dem Druck der Außenwelt und zunächst in Kiew ein neuer Teamgeist, der die Deutschen schließlich mit einem grandiosen 4:1-Sieg im Dortmunder Westfalenstadion doch noch nach Asien führte und der fortan in allen schwierigen Situationen bemüht wurde. So auch jetzt. Das mystische Stück „Zehn Tage im November“ erfährt nun bis zum kommenden Dienstag eine Fortsetzung mit dem Titel „Fünf Tage in Miyazaki". Denn sollte die deutsche Nationalmannschaft gegen Kamerun verlieren und Irland gleichzeitig Saudi-Arabien besiegen, dann würden die Deutschen zum ersten Mal seit 1938 wieder in der ersten Runde eines WM-Turniers scheitern. „Wir hatten ja schon eine ähnliche Situation gegen die Ukraine zu bestehen“, sagte Michael Ballack. Oh, Heilige Ukraine, du Geist von Kiew und Wunder von Dortmund, hilf uns, und steh uns bei in dieser schweren Stunde!

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