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Sport: Der ideale Moment

Europameister Jan Fitschen ist über 10 000 Meter überraschend das Rennen seines Lebens gelaufen

Allzu oft darf Jan Fitschen nicht gewinnen, denn Siege bekommen ihm gar nicht gut. „Ich bin sehr anfällig bei Schlafentzug“, sagt er, und Schlaf hat er in der Nacht zum Mittwoch nicht viel bekommen. „Wir haben noch bis um vier Uhr morgens vor dem Hotel gesessen und erzählt.“ Jetzt sei er so kaputt, dass er nicht mehr die 5000 Meter bei den Europameisterschaften in Göteborg laufen könne, vielleicht startet er überhaupt nicht mehr in dieser Saison. Nach dem kurzen Schlaf gab es dafür ein umso schöneres Erwachen. Als Fitschen am Morgen am Schwarzen Brett des Mannschaftshotels vorbeikam, fiel sein Blick auf eine Nachricht an ihn: Glückwunsch dem neuen Europameister über 10 000 Meter.

Seit dem Zieleinlauf kann es der sonst so disziplinierte Fitschen richtig genießen, sein nicht gerade starkes Immunsystem zu belasten. „Wann wird man schon einmal Europameister?“ Als letzter Deutscher hatte das über diese Distanz Manfred Kuschmann für die DDR geschafft, 1974, drei Jahre bevor Fitschen auf die Welt kam. Jetzt setzt der Athlet des TV Wattenscheid eine kurze Reihe erfolgreicher deutscher Langstreckenläufer fort.

Dass ein Deutscher ein großes Langstreckenrennen gewinnt, kommt fast so selten vor wie eine deutsche Niederlage im Frauenrodeln. „Das deutsche Laufen steht im Weltmaßstab nicht gut da“, sagt Fitschen. Dennoch hätten auch die Deutschen ihre Chance, glaubt er. „Man muss mal zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle sein.“ Laufen ist das Warten auf den entscheidenden Moment und die Suche nach der Lücke, durch die man schlüpfen kann wie durch ein Tor ins Glück.

Beides hat Fitschen im Ullevi-Stadion geschafft und mit einem begeisternden Schlussspurt den Europameister José Manuel Martinez aus Spanien auf der Zielgeraden auf Platz zwei verwiesen, 28:10,94 Minuten war seine Siegzeit. So schnell ist er davor noch nie gelaufen, aber es war auch erst sein vierter Wettbewerb über 10 000 Meter. „Es war das ideale Rennen für mich, nicht zu schnell und nicht zu langsam.“ Auch andere Deutsche hätten schon so viel Glück gehabt. „Wenn Nils Schumann in Sydney 2000 nicht die Lücke gehabt hätte, wäre er nie Olympiasieger geworden“, sagt der 29-Jährige. Und Dieter Baumann hätte ebenfalls seine Chance genutzt, 1992 bei den Olympischen Spielen über 5000 Meter. Auf Baumann muss Fitschen zu sprechen kommen, denn er ist trotz seines Dopingfalls der Übervater der deutschen Langstreckenläufer. Doch Fitschen hat sich gut emanzipiert. „Dieter Baumann hat eine andere Trainingsphilosophie und Lebensführung als ich.“ Während Baumann kein Bier trinke, verzichte er lieber auf den Kaffee, und was für Baumann das Stück Kuchen ist, das ist ihm die Schokolade.

Wie Baumann auch einmal bei Olympia Gold zu gewinnen, daran denkt Fitschen nicht. Er hat sich für die Weltmeisterschaft 2007 in Osaka erst einmal eine Finalteilnahme vorgenommen. „Es klingt komisch, aber das wäre schon ein Erfolg.“ Er freue sich auch über einen deutschen Meistertitel. „Es gibt so viele Leute, die mit mir angefangen haben und mit mir tauschen würden.“ Neben dem Sport hat er ohnehin zurzeit ein anderes Ziel: seine Diplomarbeit zu schreiben und damit sein Physikstudium in Bochum abzuschließen. Sein Spezialgebiet ist die Plasmaphysik. „Man versucht, die Energiebereitstellung der Sonne auf der Erde zu reproduzieren“, sagt Jan Fitschen. Klingt ungefähr so schwierig, wie bei Olympischen Spielen schneller als alle Afrikaner zu laufen.

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