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Sport: Der Knie-K.-o.

Nikolai Walujew bleibt Schwergewichts-Champ, weil sich Jameel McCline das Bein verdreht

Im Westernjargon würde es heißen: Der Mann hat sich selbst ins Knie geschossen. In der Diktion des Ringarztes Walter Wagner lautete das Ergebnis der ersten Box-WM im Schwergewicht in einem Schweizer Ring: Technischer K. o. durch „Kniescheibensehnenabriss“. Für Jameel McCline (36) ein schmerzhaftes, für Nikolai Walujew (33) kein glorreiches, für Promoter Wilfried Sauerland („nicht zu fassen“) ein schockierendes und für 9000 Zuschauer in der ausverkauften Basler St.Jakobshalle ein (zunächst) empörendes Ende dieses hochgejazzten Riesenspektakels.

Je schwerer die Boxer wiegen, umso bedrohlicher die Gefahr für Kinn – und auch Knie. Der russische Riese von 2,13 Meter und 146,2 Kilo weiß, dass sein Kinn unempfindlich ist gegen die Schläge der McClines dieser Boxwelt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als der Amerikaner ihm mit dem Mut der Verzweiflung ein paar Haken an den mächtigen Schädel hämmerte. Sorgen macht sich Walujew nur, ob seine Knie die Last seiner drei Zentner aushalten. Deswegen sollen Manschetten die empfindlichen Stellen seines Körpers stabilisieren.

Das hätte auch Jameel McCline tun sollen. Bei der letzten Aktion der dritten Runde, bei einem Angriffsversuch, knickte der Hüne aus Florida ein, brach ohne Schlageinwirkung zusammen: Knie verdreht. Alles kam in diesem Moment zusammen: Der Gong, die Geste des englischen Ringrichters John Coyle, „kein Niederschlag“, und das Gebaren des auf dem Rücken liegenden Boxers. McCline deutete mit dem linken Handschuh panikartig auf sein linkes Knie. Wer direkt am Ring saß, sah sofort den hervorstehenden Knochen.

Das Publikum konnte die „herausgesprungene Kniescheibe“ (Ringarzt Wagner) nicht erkennen und machte seinem Unmut Luft. Der Underdog, so der Anfangsverdacht der entrüsteten Zuschauer, die bis zu 1100 Franken Eintritt bezahlt hatten, wollte wohl mit einer theatralischen Nummer aussteigen. Erst als Sanitäter mit einem mühsamen Akt die 1,98 Meter und 121,7 Kilo auf eine Trage legten und zu viert aus der Halle in einen Ambulanzwagen schleppten, hatte auch der letzte Pfeifer und Buhrufer begriffen: Der Mann war wirklich schwer verletzt. Die nächtliche Diagnose im Krankenhaus: Patellasehnenriss im linken Knie. McCline muss in den USA operiert werden.

Die Zeit des offiziellen Endes wurde im Protokoll mit der 18. Sekunde in der Pause nach der dritten Runde eingetragen. Zwei der drei Punktrichter hatten 29:28 Punkte für den WBA-Weltmeister addiert, der dritte 29:28 Punkte für den Herausforderer. „Ich bedauere die Verletzung sehr. Aber gerade ein Schwergewichtler muss auf sein Gleichgewicht besonders achten. McCline hatte keine stabile Position mehr“, sagte Walujew.

Die drei Runden haben kaum Aussagekraft. McCline, der sich eine Walk-in-Musik verbeten hatte, wirkte unsicher und ängstlich, blickte bei der Gegenüberstellung nicht zu Walujew auf, sondern auf den Boden, als würde er das Loch suchen, in dem er sich hätte verkriechen können. Der Amerikaner machte die Augen zu, seine Fluchtbewegungen wirkten ängstlich, als diese gewaltige Masse von einem Menschen stoisch nach vorne trottete und seine Pranken ausfuhr, ohne ernsthaft zu treffen. „Ich sehe deine Schläge gar nicht. Du musst zuschlagen. Rechts, links. Wo bitte sind sie?“, tadelte Trainer Manuel Gabriel seinen Schützling nach der zweiten Runde. „Move, move“ (beweg dich), forderte gegenüber Trainer Matthew Drayton seinen Boxer auf und rief begeistert in den Ring, als McCline die Order befolgte. „Move, that’s it!“ Der Hasenfuß wurde grade mutig, als das Malheur passierte.

Man darf davon ausgehen, dass auch McCline in den späteren Runden psychisch an dem Koloss aus St.Petersburg zerbrochen wäre. Ein Lächeln als einzige Wirkung auf die härtesten Hiebe und das panzerartige Vorwärtstrotten zermürben und zerstören jeden, der nicht den Mut, den Willen, die Kraft und die Schläue aufbringt, diesem Ungetüm zu widerstehen.

Der nervende und nicht mehr ernstzunehmende Marktschreier Don King (75) schwadronierte von einem „Phantomschlag“ Walujews ähnlich dem mysteriösen Hieb, mit dem Ali einst Sonny Liston in der ersten Runde k.o. geschlagen hatte. King trompete: „Es war ein Knockout, der McCline bis ins Knie traf.“ McCline scheiterte also auch im dritten Versuch, Weltmeister zu werden (K. o. gegen Wladimir Klitschko, Punktniederlage gegen Chris Byrd). Nikolai Walujew muss nun innerhalb von 90 Tagen zur Pflichtverteidigung gegen den Usbeken Ruslan Tschagajew antreten. Bis zum 9. Februar müssen sich die Promoter Sauerland und Klaus-Peter Kohl über die Modalitäten einigen. Dann wird versteigert. Das Spektakel aber, das alle sehen wollen, ist der Gipfel des Gigantismus: Wladimir Klitschko gegen Nikolai Walujew.

Hartmut Scherzer[Basel]

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