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Der Anti-Götze. Roman Neustädter kommt als klassischer Abräumer aufs Feld. Foto: dpa

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Sport: Der Sicherheitsfanatiker

Roman Neustädter gibt der Nationalelf, was sie braucht: defensive Stabilität.

Amsterdam - Es ist schon seltsam, mit welchen Aussetzern ein gut trainierter Körper auf eine an sich erfreuliche Nachricht reagiert. Roman Neustädter, der Mittelfeldspieler vom FC Schalke 04, hat am Wochenende berichtet, dass ein simpler Telefonanruf bei ihm wichtige Körperfunktionen außer Betrieb gesetzt hatte. Die Nachricht, erstmals für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nominiert zu sein, führte bei ihm nicht nur zu erhöhter Transpiration, sie stürzte ihn auch in eine Art Schockstarre, die nach eigenem Empfinden eine bis zwei Stunden anhielt. Wenn man weiß, dass der 24-Jährige vor allem auf dem Fußballplatz ein sehr kontrollierter Mensch ist, kann man sich ungefähr ausmalen, was ihm die Einladung zum Länderspiel gegen Holland an diesem Mittwoch bedeutet haben muss.

Es war in der Tat eine ziemliche Überraschung, dass Neustädter im Aufgebot auftauchte. Die Öffentlichkeit hatte ihn nicht einmal als offiziellen Kandidaten identifiziert, und es gab - trotz großer Wertschätzung – auch keine Initiative aus dem eigenen Verein, den Mittelfeldspieler in die Nationalmannschaft zu singen. Andererseits ist seine Nominierung nur folgerichtig. Neustädter bringt genau das mit, was dem Team von Joachim Löw zuletzt gefehlt hat: ein defensives Gewissen.

Der Sohn des früheren Mainzer Profis Peter Neustädter legt es nicht darauf an, selbst zu glänzen; er ist erst zufrieden, wenn sein Team glänzt. Neustädter ist ein Sicherheitsfanatiker, sein Denken gilt fast ausschließlich der Defensive. „Ich versuche, so Fußball zu spielen, wie ich es gelernt habe“, sagt er. Es ist eine Art, die in Schalke immens geschätzt wird. In den bisherigen 17 Pflichtspielen dieser Saison stand Neustädter 16-mal von der ersten bis zur letzten Minute auf dem Platz – nur im DFB-Pokal gegen den Zweitligisten Sandhausen glaubte Trainer Huub Stevens auf ihn verzichten zu können.

„Der Denker und Lenker“ wird Neustädter von seinen Kollegen im Verein genannt. Er verfügt über eine belastbare Technik, vor allem aber zeichnet er sich durch eine glänzende Übersicht und Spielintelligenz aus. Neustädter besitzt ein ausgeprägtes Gespür für Gefahren und ist meist da zu finden, wo es gefährlich werden könnte. Im Schnitt fängt er in jedem Spiel zwölf Zuspiele des Gegners ab, begeht aber weniger als ein Foul. Beim großen Publikum fällt er mit seiner Art selten auf. Bei Borussia Mönchengladbach erzielte Neustädter in 59 Bundesligaspielen ein einziges Tor, ganze zwei bereitete er vor. Lucien Favre, der ihn dort bis zum Sommer trainiert hat, trauert seinem Sechser trotzdem mindestens genauso hinterher wie Marco Reus. Der Schweizer hält Neustädter für einen der am meisten unterschätzten Spieler der Bundesliga. Intern hat Favre ihn früh als Kandidaten für die Nationalmannschaft bezeichnet.

Roman Neustädter ist ein Spieler, wie ihn Trainer lieben – von Löw vielleicht einmal abgesehen. Im Masterplan des Bundestrainers ist ein solcher Typ eigentlich nicht mehr vorgesehen. Löw hat immer gesagt, dass er als Sechser eigentlich keinen klassischen Abräumer wolle: „Im Mittelfeld baue ich auf drei spielstarke Spieler - egal wie ihr Name, wie ihre Nummer ist.“ Selbst Mario Götze könne er sich auf der Sechs vorstellen. Der manchmal etwas schwergängige Neustädter ist im Grunde so etwas wie der Anti-Götze. Gerade deshalb erzählt seine Nominierung etwas darüber, wie Löw die Gesamtsituation bei der Nationalmannschaft nach dem 4:4 gegen Schweden bewertet. Neustädters Berufung wirkt wie das zumindest indirekte Eingeständnis des Bundestrainers, dass er die Sorgen des Volkes um die defensive Stabilität ein wenig ernster nimmt.

Die Chancen, dass Neustädter schon in Amsterdam zu seinem Länderspieldebüt kommt, stehen nicht schlecht. Das liegt aber auch daran, dass im defensiven Mittelfeld nach den Ausfällen von Sami Khedira, Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger Personalnotstand herrscht. Wie seine langfristige Perspektive aussieht, ist schwer vorherzusagen. Für Neustädter spricht, dass er wiss- und lernbegierig ist, dass er einen klaren Karriereplan verfolgt. In Schalke hat er sich in der Offensive bereits deutlich gesteigert. In elf Spielen erzielte er bereits drei Tore – wobei Neustädter das noch nicht als grundsätzlich neue Qualität verstanden wissen will: „Ich stand dreimal richtig bei einer Standardsituation.“ Stefan Hermanns

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