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Sport: Der spielende Schlussmann

Hollands Edwin van der Sar behandelt den Ball mit dem Fuß wie ein Feldspieler

Langsam muss sich die Fifa ein bisschen um ihre Autorität sorgen. Es häufen sich die Verstöße gegen die heiligen Gesetze des Fußball-Weltverbandes. In dieser Woche wurde ein weiterer Akt der Auflehnung aktenkundig. Edwin van der Sar, 35 Jahre, 1,97 Meter, Torhüter von Manchester United und der holländischen Fußball-Nationalmannschaft machte sich des unerlaubten Ballschmuggels schuldig, nach Torsten Frings (offenbar erfolgreich) und dem Brasilianer Fred (noch rechtzeitig unterbunden) bereits der dritte Fall. Nach dem Spiel gegen Argentinien stopfte sich van der Sar den Spielball unters Hemd. Weil ein schwangerer Torwart jedoch verdächtig aussieht, entschied er sich für die auffällig unauffällige Variante: Er nahm den Ball einfach in die Hand und ging vom Feld. Niemand hinderte ihn daran.

Besondere Spiele erfordern besondere Andenken, und das Spiel gegen Argentinien war für van der Sar ein sehr besonderes. Es war sein 112. Einsatz für Holland. Kein Niederländer hat mehr Länderspiele bestritten, und heute, nach dem Einsatz im Viertelfinale der WM gegen Portugal, muss sich der Kapitän der holländischen Nationalmannschaft den Rekord auch nicht mehr mit Frank de Boer teilen. „Das gefällt mir, dass ich bald für alle der Rekordnationalspieler sein werde“, sagt van der Sar. „Ich weiß noch, wie es früher war, wenn der Name Ruud Krol fiel. Jeder hat gesagt: 83 Länderspiele und Rekordnationalspieler.“

Bondscoach Marco van Basten hat seinen Torhüter vor dem Spiel gegen Argentinien aus Rücksicht auf sein Alter gefragt: „Soll ich dir eine Pause gönnen?“ Aber das war nur ein Scherz. „Ich fühle mich noch gut“, sagt van der Sar. „Und ich habe das Gefühl, dass ich in den letzten Jahren noch besser geworden bin.“ Die Chance, dass er als Rekordnationalspieler abgelöst wird, besteht so bald nicht. Phillip Cocu hat gegen Argentinien zwar sein 100. Länderspiel bestritten, nach der WM aber will der Mittelfeldspieler seine Karriere in der Nationalmannschaft beenden. Cocu und van der Sar sind die letzten Übriggebliebenen aus einer hoffnungsvollen, aber früh gescheiterten Generation. Nach ihnen kommt erst einmal lange nichts. Hollands Nationalmannschaft ist jung, sehr jung.

Wenn man über van der Sar und die Nationalmannschaft redet, muss man auch über Elfmeter reden. Bei drei Turnieren scheiterte der Torhüter mit der Elftal im Elfmeterschießen, bei der EM 1996 im Viertelfinale gegen Frankreich, bei der WM 1998 im Halbfinale gegen Brasilien und bei der Europameisterschaft 2000 gegen Italien, ebenfalls im Halbfinale. Nur gegen die Italiener hat van der Sar einen Elfmeter gehalten. „Wenn ich auf elf Jahre Nationalmannschaftskarriere zurückschaue, denke ich nicht als Erstes an Elfmeter“, sagt er.

Van der Sar hat längst bewiesen, dass man kein Elfmetertöter sein muss, um als Torwart geschätzt zu werden. „Er ist der beste holländische Torhüter aller Zeiten – mit Abstand“, sagt Stanley Menzo, der Torwarttrainer der Niederländer. Nur in Deutschland hätte es van der Sar vermutlich nie so weit gebracht. Das deutsche Publikum schätzt eher Reaktionstorhüter, die auf der Linie mit ihren Reflexen scheinbar unhaltbare Bälle halten. Ein Antizipationstorhüter wie van der Sar hingegen erahnt gefährliche Situationen bereits in ihrer Entstehung. Meistens muss er nicht spektakulär durch die Luft fliegen – weil er oft schon dort steht, wo der Ball erst noch hinkommt.

In Deutschland setzt sich diese Idee des Torwartspiels – dank Jens Lehmann – erst jetzt langsam durch; in den Niederlanden ist sie seit Jahrzehnten anerkannter Standard. Holland hatte schon bei der WM 1974 einen mitspielenden Torhüter. Auf Intervention von Johan Cruyff entschied sich Bondscoach Rinus Michels damals kurz vor Turnierbeginn, Jan Jongbloed anstelle von Piet Schrijvers zwischen die Pfosten zu stellen. Als Trainer hat Cruyff die Idee weiter vorangetrieben. Stanley Menzo spielte bei Ajax Amsterdam eine Art Libero hinter der Abwehr, und diese Linie setzt auch van der Sar fort. „Er denkt wie ein Feldspieler“, sagt Marco van Basten, Hollands Bondscoach.

Van der Sar behandelt den Ball mit dem Fuß wie kaum ein zweiter Torhüter weltweit. Andre Ooijer, Verteidiger der holländischen Nationalmannschaft, hat einmal zu ihm gesagt: „Was ist es doch herrlich, wenn du hinter mir stehst. Du bist immer anspielbar.“ Van der Sars Vorstellung vom Torwartspiel hat nichts Romantisches. Dass andere Torhüter den Flug durch die Luft als Grenzüberschreitung verstehen, begreift er nicht: „Wenn es geht, fange ich den Ball lieber im Laufen. Dann kann ich ihn schneller ins Spiel zurückbringen.“

Van der Sar hat bei einigen der renommiertesten Vereine Europas unter Vertrag gestanden: Mit Ajax gewann er 1992 den Uefa-Cup und 1995 die Champions League, bei Juventus Turin war er der erste nicht-italienische Torhüter, bei Manchester United gilt er als legitimer Nachfolger des großen Peter Schmeichel. Nur in der Nationalmannschaft ist seine Karriere bisher unvollendet geblieben. Einen Titel hat van der Sar mit Holland nie gewonnen. Wahrscheinlich wird ihm das auch bei der WM in Deutschland nicht gelingen, weil die Mannschaft noch zu jung und unerfahren ist. Schon in zwei Jahren, bei der Europameisterschaft, könnte die Chance wesentlich größer sein. Edwin van der Sar, der im Oktober 36 wird, sagt: „Über meine Zukunft werde ich erst nach der WM entscheiden.“

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