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Sport: Der Stevens-Faktor

Die Mannschaft denkt, der Trainer lenkt, und Hertha holt einen Punkt in Dortmund

Von Stefan Hermanns

Dortmund. Markus Merk, der sonst so rigorose Schiedsrichter, verfolgte den Eingriff in seine Gestaltungshoheit mit einer ungekannten Gelassenheit. An der Seitenlinie, mittig zwischen den beiden Trainerbänken, stand Herthas Verteidiger Andreas Schmidt zum Einwurf bereit. Doch sein neuer Chef Huub Stevens hinderte ihn eigenmächtig an der Fortführung des Spiels. Stattdessen zitierte Stevens Arne Friedrich herbei, ließ Andreas Neuendorf vom entlegenen Ende des Feldes anrücken und hielt mit den drei Mitgliedern seiner Viererkette Kriegsrat.

Etwas mehr als eine Stunde war da gespielt, Hertha lag in Dortmund 1:2 zurück und Stevens hatte gerade den offensiven Pinto für den defensiven Dardai eingewechselt. „Wir haben ein gewisses Risiko genommen“, sagte Herthas Trainer. Und dieses Risiko machte sich bezahlt: In der 85. Minute erzielte Neuendorf, den Stevens von der Abwehr ins Mittelfeld versetzt hatte, den Ausgleichstreffer zum 2:2-Endstand.

Stark wie noch nie bei Borussia

Als Huub Stevens später vor den Fernsehkameras stand, ging Jens Lehmann, der Torwart der Dortmunder, an ihm vorbei. Stevens und Lehmann haben 1997 mit Schalke 04 den Uefa-Cup gewonnen. „Trainer!“, rief Lehmann. „Herzlichen Glückwunsch!“ Das hat es lange nicht mehr gegeben, dass sich ein Trainer der Berliner nach einem Spiel im Westfalenstadion beglückwünschen lassen konnte. Seit dem Wiederaufstieg 1997 hatte Hertha fünfmal in Folge verloren. Das letzte Unentschieden lag 25 Jahre zurück, der letzte Sieg gar 30. „Wir waren stark wie noch nie in Dortmund“, sagte Herthas Manager Dieter Hoeneß.

In früheren Jahren, so erinnerte sich Kapitän Michael Preetz, habe die Mannschaft in Dortmund „alles immer brav abgeliefert". Wenn sie in Rückstand geriet, wusste sie schon, dass sie verlieren würde, und als die Dortmunder plötzlich 2:1 führten, „hatten wir die Vergangenheit wieder im Kopf“, sagte Preetz. Aber diesmal, so sagte Hoeneß, habe die Mannschaft an sich geglaubt. Wieso auch nicht?, fragte Stevens: „Warum muss man sich hier wegstecken?“

Herthas Trainer hat gut reden. Schließlich sieht seine persönliche BVB-Bilanz weit besser aus als die seines Arbeitgebers. Zum elften Mal in Folge konnten die Dortmunder nicht gegen Stevens gewinnen, und Manager Hoeneß hatte es daher schon vor dem Spiel als Gerücht abgetan, dass Hertha Stevens nur verpflichtet habe, um auch mal in Dortmund zu siegen. Der wahre Grund ist: Hertha hat Stevens verpflichtet, damit die Mannschaft noch erfolgreicher spielt. Und der Auftritt beim Deutschen Meister ist ein erster Hinweis, dass dies tatsächlich gelingen könnte.

„Ich bin fußballerisch nicht zufrieden“, sagte Stevens zwar, aber das liegt vor allem daran, dass der Holländer extrem hohe Ansprüche hegt. „Das war nicht das, was ich denke, was in der Mannschaft steckt.“ Stevens hat ganz genaue Vorstellungen davon, wie ein Fußballspiel funktioniert. Es geht ihm nicht um ein starres System, „es geht um die Balance“, um die Ordnung auf dem Feld, die richtige Organisation, eine gewisse Variabilität. Die Spieler müssen jederzeit auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren können. „Das geht nicht nach Schema F“, sagte Manager Hoeneß. „So was gefällt mir.“

Stevens Vorstellung vom Fußball fordert viel von den Spielern, aber letztlich fördert sie auch ihre Fähigkeiten: weil niemand mehr auf Automatismen vertrauen kann, sondern weil der mündige Spieler immer wieder dazu gezwungen ist, jede Entscheidung bewusst zu treffen. Dass sie auch mal falsch liegen können, wie Neuendorf mit seiner Entscheidung vor dem 1:1, nicht auf abseits zu spielen, wird sich in der ersten Zeit nicht ganz vermeiden lassen. Aber diese geistige Flexibilität, die Stevens verlangt, „hält die Spieler wach“, sagt Hoeneß.

Huub Stevens richtet sich nicht nach den Erwartungen der Öffentlichkeit. Wenn dies so wäre, hätte in Dortmund Michael Hartmann statt Andreas Neuendorf in der Viererkette gespielt und Michael Preetz auf der Bank gesessen. „Ich entscheide das nach meinem Gefühl“, sagte Stevens, „danach, wie ich die Spieler sehe.“ Dieter Hoeneß glaubt, dass der Trainer damit Überraschungsmomente ins Spiel bringt. Schaden kann das nicht.

Disziplinierte Offensive beim Meister

Ob er in Dortmund, beim Meister, auch mit fünf offensiven Leuten spielen könne, war Stevens vor der Begegnung fast vorwurfsvoll gefragt worden. „Wenn jeder weiß, was dann gefragt ist, glaube ich nicht, dass das zu offensiv ist“, antwortete Herthas Trainer. Am Ende standen sieben gelernte Offensivspieler auf dem Platz, aber Thorben Marx zum Beispiel wusste, dass von ihm weniger unbändige Angriffslust gefragt war als die disziplinierte Überwachung des Dortmunder Spielmachers Tomas Rosicky.

Daran hielt Marx sich, und Dieter Hoeneß bescheinigte ihm später, überragend gespielt zu haben. „Eine Mentalitätssache“ sei das, sagte Stevens, denn „du kannst reden so viel, wie du willst – die Jungens müssen es auch umsetzen.“ Es scheint so, als bestehe Anlass zur Hoffnung.

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