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Sport: Der verdrängte Unfall

Turner Hablik ist seit zwei Jahren gelähmt

Berlin Vielleicht war es ein Zeichen. Er hatte sich an der Hand verletzt, ein paar Tage zuvor. Die Hand ist für einen Turner sehr wichtig, doch weil es der erste Landesliga-Wettkampf für den TV Ober-Ramstadt war, wollte Johannes Hablik unbedingt dabei sein. Er war gut vorbereitet auf die Saison, motiviert, und am Boden kann man in der Landesliga auch noch mit einer schmerzenden Hand turnen. Außerdem war Hablik amtierender Deutscher Meister im Mehrkampf. Er hatte in der Vorbereitungsphase ein neues Element in seine Boden-Übung eingebaut: den anderthalbfachen Salto vorwärts. Hundert Mal hatte er ihn im Training geübt und immer sauber gestanden. Hablik turnte den Salto auch an diesem Sonntag. Aber er kam nicht auf die Füße. Er schlug mit dem Kopf auf.

Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte bei Johannes Hablik Quetschungen des Rückenmarks und irreparable Schäden der Wirbelsäule. Nach drei Herzstillständen, einer Lungenembolie und einem halben Jahr auf der Intensivstation stand fest: Der 22-Jährige ist vom vierten Halswirbel an querschnittsgelähmt. Seinen Kopf kann er bewegen, die Schultern nur unter Schmerzen. Alles, was darunter liegt, ist taub.

Am vergangenen Montag turnte Ronny Ziesmer im Leistungszentrum in Kienbaum fast genau die gleiche Übung wie Hablik: einen doppelten Salto am Boden. Auch Ziesmer hatte die Bewegung schon hundert Mal geübt, auch er stürzte auf den Kopf. Und die Diagnose ist genauso niederschmetternd: Quetschungen des Rückenmarks und dauerhafte Lähmung vom Kopf abwärts.

Johannes Hablik hat sich viele Fragen gestellt. „Aber nach einem halben Jahr habe ich aufgehört, über den Moment des Unfalls nachzudenken“, sagt er heute. Nach fast einjährigem Aufenthalt im Krankenhaus durfte er im Oktober 2003 endlich nach Hause. „Das war der schönste Augenblick in den letzten zwei Jahren“, sagt Hablik. Er muss rund um die Uhr betreut werden: von seinen Eltern, seiner Schwester und einem 24-Stunden-Pflegedienst. „Der macht aber nur Kleinigkeiten“, sagt Hablik. Kleinigkeiten, dazu zählen Essen, Trinken und Anziehen. Nichts davon kann er alleine machen. Hablik hadert nicht mehr mit dem Schicksal. Er hat sein Sportstudium wieder aufgenommen, Sportjournalist möchte er später werden oder Sportökonom. „Auf jeden Fall ganz nah dranbleiben am Sport“, sagt Hablik. Manchmal geht er zu den Turnwettkämpfen seiner Freunde. Er hat die Perspektive geändert, er ist nun ein kritischer Beobachter geworden. „Es ist nicht so, dass ich ständig Angst habe. Aber manchmal fragt man sich schon: Musste der dieses gefährliche Element unbedingt turnen?“ Er versucht, ein normales Leben zu führen – soweit ihm das möglich ist. Vor zwei Monaten haben die Eltern ein Spezialauto bekommen, mit dem die täglichen Fahrten mit dem Sohn leichter zu bewältigen sind. Und vielleicht ist die Forschung irgendwann so weit, dass er die Finger wieder bewegen kann oder sogar die Hände. „Es besteht immer Hoffnung“, sagt Hablik.

Im Internet hat er eine Homepage eingerichtet. Man kann dort Geld für ihn spenden und ihm Nachrichten schreiben. Hablik hat eine eigene Rubrik, die „Jo persönlich“ heißt. Der letzte Eintrag stammt vom 22. Mai. Darin ist zu lesen, dass er eigentlich etwas Erfreuliches schreiben wollte, aber dass ihm nach den Ergebnissen im Fußball „nur betretenes Schweigen“ bleibt. Zu dem Unfall von Ronny Ziesmer hat Hablik nichts geschrieben. „Natürlich hat mich das betroffen gemacht“, sagt er. Aber er möchte nicht mehr ständig an den furchtbaren Tag seines eigenen Unfalls und die Zeit unmittelbar danach erinnert werden. „Man vergisst alles, was damit zu tun hatte“, erklärt er. Es wird sehr still am anderen Ende der Leitung. Dann sagt Johannes Hablik mit leiser Stimme: „Vielleicht verdrängt man es auch.“

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