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Mertesacker jubelt

© ddp

Deutsche Elf: Die besseren Türken

Die deutsche Mannschaft hat bei der Fußball-EM eine wertvolle Eigenschaft entwickelt: Die Spieler kopieren ihre Gegner - und übertreffen sie

Gerhard Mayer-Vorfelder hat nicht immer ein Gespür für die Situation und den richtigen Moment besessen. In diesem Augenblick aber war er genau richtig. Mayer-Vorfelder stand unten auf dem Platz, zusammen mit Theo Zwanziger, seinem Nachfolger als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Auf dem Feld feierten die deutschen Fußballer ihren Einzug ins EM-Finale, doch diesmal ging es für MV nur vordergründig darum, noch einmal ein wenig vom Glanz der Sieger abzubekommen: Mayer-Vorfelder war gekommen, um das alte Deutschland zu repräsentieren. Der deutsche Fußball, der unaufhaltsam in die Moderne zu streben schien, hatte sich mit dem 3:2-Sieg gegen die überlegenen Türken ins Jahr 2002 zurückgebeamt – und damit das ganze Land in Verzückung versetzt. „Wichtig ist, dass wir das Spiel gewonnen haben“, sagte Torsten Frings. „Wie, das spielt in einem Halbfinale keine Rolle.“

Wie auch immer die Europameisterschaft am Sonntag für die Nationalmannschaft enden wird – schon jetzt lässt sich feststellen: Sie hat ein seltsames Turnier gespielt. Nach der herausragenden Qualifikation mit den nicht zu bestreitenden spielerischen Fortschritten galt sie als einer der Favoriten auf den Titel. Tatsächlich steht Deutschland jetzt im Finale, allerdings nach einem dürftigen Auftritt gegen eine ersatzgeschwächte türkische Mannschaft, die den schöneren und zielstrebigeren Fußball gespielt hatte. „Ein gutes Gefühl hatte ich das ganze Spiel über nicht“, sagte Manager Oliver Bierhoff. „Zumindest nicht in dem Sinne: Das Ding schaukeln wir nach Hause. Innerlich wusste ich aber auch, dass wir gewinnen.“

Diesen Zwiespalt bedient das deutsche Team derzeit perfekt. Es ist schwer, diese Mannschaft zu entschlüsseln, die vor dem Turnier nur eine Richtung kannte – vertikal nach vorn. Der Weg zum Titel war perfekt geplant. Die Mannschaft würde mit offensivem Kombinationsfußball über Europa hinwegfegen, so wie Joachim Löw, der Bundestrainer, ihn dekretiert hat. Im Halbfinale aber entschied sich Löw ein weiteres Mal gegen sich selbst – und er traf ein weiteres Mal die richtige Entscheidung. Der Bundestrainer rang in der zweiten Halbzeit mit sich, ob er einen zweiten Stürmer bringen sollte, um der Mannschaft mit einer weiteren Anspieloption das Spiel nach vorne zu erleichtern. Doch Löw kam zu dem Ergebnis: „Es war wichtiger, defensiv einigermaßen ordentlich zu arbeiten und nicht noch einmal in Rückstand zu geraten.“ Ein solcher Satz aus seinem Mund, das ist so, als würde Guido Westerwelle eine Kampagne zur Einführung des Mindestlohns initiieren.

Trotzdem wäre es zu einfach, den Erfolg der Nationalelf allein als Triumph der deutschen Tugenden zu deuten, geschweige denn als bloßes Glück. „Nach dem 2:2 waren die Türken psychologisch im Vorteil“, sagte Bierhoff. „Aber es zeigt die Moral der Mannschaft, dass sie noch so eine Aktion herzaubert.“ Der letzte Angriff, ein schneidender Pass von Thomas Hitzlsperger in den Strafraum, die perfekte Ballannahme von Philipp Lahm und sein kompromissloser Abschluss ins kurze Eck, mit dem er den Torhüter entscheidend irritierte, weil zehn von elf Stürmern die andere Seite gewählt hätten. „Das war unsere beste Aktion im ganzen Spiel“, sagte Kapitän Michael Ballack. Schon wegen dieses Tores verbot es sich, von einem Rumpelsieg zu sprechen.

Offensichtlich hat die Mannschaft während der EM eine Eigenschaft entwickelt, die sich mit dem Einzug ins Finale als wertvoller erwiesen hat als das schöne Spiel an sich: Sie kann sich perfekt auf ihren Gegner einstellen, sie kopiert seine Stärken – und übertrifft sie. Die Österreicher mit ihrer spielerisch minderbemittelten Elf hätten den Deutschen nur kämpferisch beikommen können, die Deutschen aber kämpften zurück, mit ausdrücklicher Genehmigung ihres schöngeistigen Bundestrainers. Die Portugiesen hingegen wurden im Viertelfinale mit spielerischen und taktischen Mitteln besiegt. Gegen den vermeintlich stärksten Gegner zeigten die Deutschen ihr stärkstes Spiel, das 1:0 von Bastian Schweinsteiger war eines der am schönsten herausgespielten Tore des ganzen Turniers. Und gegen die Türkei? „Wir haben gezeigt, dass wir die besseren Türken sind“, sagte Torhüter Jens Lehmann. Oder doch die besseren Deutschen?

Manchmal besitzt der Fußball einen seltsamen Sinn für Komik. Dreimal hatten sich die Türken bei dieser EM durch späte Tore gerettet. Gegen Deutschland gelang es ihnen mit Sentürks Ausgleich zum 2:2 ein viertes Mal. Aber die Deutschen waren in der Lage, erneut zu kontern – als wollten sie zeigen, dass immer noch sie das Copyright an diesen Siegen der altdeutschen Art besitzen.

Als dieses unruhige wie merkwürdige Spiel sein erfreuliches Ende gefunden hatte, baute sich die Mannschaft in der Kurve der deutschen Fans auf. Lukas Podolski stand etwas vorgerückt und dirigierte den lautstarken Chor im Rang. Dann überlegte er für ein paar Sekunden, was jetzt noch zu tun sei. Podolski verließ sich mal wieder auf seinen Instinkt. Er fühlte, was dieser Finaleinzug, egal wie er zustandegekommen war, ihnen allen bedeutete. Er überwand das letzte Stückchen Distanz und übergab sich der Masse. Die Masse schnappte zu, wie nach einem geworfenen Spielertrikot. Dieses Bild wird bleiben.

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