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Keine Zeit verlieren. Die deutsche Mannschaft, hier mit Ilkay Gündogan, muss schnell in die Spur zurückfinden.

© rtr

Deutsche Fußballnationalmannschaft: Im Irgendwo zwischen Rio und Paris

Die Mannschaft von Joachim Löw hat den WM-Titel bis heute nicht verdaut. In einem Jahr soll trotzdem der EM-Titel her – eine Analyse.

Gut, dass es Gibraltar war, das der Weltmeister zu bespielen hatte. Ein Zwerg in Sachen Fußball mit mehr Affen als Fußballern. Ein lauter Zwischenruf des Bundestrainers in der Halbzeitpause des EM-Qualifikationsspiels reichte, dann fielen doch noch ein paar Törchen. Pflicht erfüllt, mehr nicht. Endlich Pause. Oder anders ausgedrückt: Halbzeit zwischen Rio und Paris. Vor einem Jahr holte die deutsche Fußballnationalmannschaft den WM-Titel – in einem Jahr will sie in Frankreich Europameister werden.

„Wir kennen unsere Probleme und werden sie nach der Pause angehen“, sagte Joachim Löw nach dem lauen Sommerkick in Faro gegen Gibraltar. Die Mannschaft werde in die Spur kommen, weil sie ein großes Potenzial habe. „Das werden wir wieder abrufen.“ Das muss sie auch, denn hinter der deutschen Mannschaft liegt ein schwieriges Jahr. Genau genommen war es das schwächste der Ära Löw. Zehn Spiele hat der Weltmeister bestritten seit Rio und davon nur fünf gewonnen.

Die Nachwirkungen der WM in Brasilien fielen gravierender aus als angenommen. Vor allem mental wirkte die Mannschaft erschöpft. Einige Spieler waren ausgelaugt oder verletzt, andere fanden ihren Rhythmus nicht. In keinem der zurückliegenden EM-Qualifikationsspiele konnte das deutsche Team wirklich Spannung aufbauen. Die Ergebnisse gegen Polen (0:2), Irland (1:1) oder Schottland (2:1) blieben dürftig, die gezeigten Leistungen erst recht. Diese fußballerisch limitierten Teams brachten den Weltmeister allein durch Entschlossenheit und Engagement ins Schleudern. „Die WM war eine immense Belastung in jedem Bereich. So etwas fordert seinen Tribut“, sagte Löw.

So wurden viele WM-Spieler immer wieder von Verletzungen heimgesucht. Bastian Schweinsteiger, Julian Draxler, Mats Hummels und Mesut Özil etwa zogen sich schwere Verletzungen ohne Fremdeinwirkung zu. Andere Spieler spürten andere Auswirkungen. „Ich bin froh, dass ein langes Jahr jetzt zu Ende ist. Es war kein einfaches Jahr“, sagte Mario Götze. Der Final-Torschütze steckte den WM-Stress körperlich weg. Der 23-Jährige bestritt als einziger von 32 eingesetzten Nationalspielern alle zehn Saisonspiele. Zu schaffen machte ihm mehr sein Heldenstatus. Auch André Schürrle hatte sichtbar Mühe, den Übergang in den Fußballalltag zu bewältigen. Sein Wechsel im Winter von Chelsea nach Wolfsburg für 32 Millionen Euro tat ein Übriges.

Lahm, Klose und Mertesacker haben das Team über zehn Jahre mitgeprägt

Verletzungen, Form- und Sinnkrisen sind das eine, zu schaffen machte Joachim Löw ein Umstand, der erst allmählich seine Wirkung entfaltete: die Rücktritte aus der Nationalelf von Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker. Alle drei Spieler waren mehr als zehn Jahre dabei, sie prägten durch ihren Charakter, ihre Menschlichkeit und ihre Zugewandtheit das Klima. Sie hatten stets das Große und Ganze im Blick und haben dadurch das Gebilde Nationalmannschaft ein Stück weit getragen. Sie haben die Mannschaft in ihrem Inneren zusammengehalten und ihr Ausrichtung und Inhalt gegeben. Jetzt müssen andere führen und tragen und lenken. Manuel Neuer beispielsweise, Toni Kroos, Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller. Diese Spieler sind nachgereift, aber solch ein Prozess braucht Zeit.

Und schließlich ist auch der Bundestrainer selbst mit seinem Vorhaben, der Mannschaft nach dem Höhepunkt neue Impulse zu verleihen und sie spieltechnisch variabler aufzustellen, nicht ernsthaft vorangekommen. Man müsse in den nächsten Monaten Schritte nach vorne machen, um konkurrenzfähig zu bleiben, hatte Joachim Löw anlässlich seiner Vertragsverlängerung (bis 2018) gesagt: „Es ist eine besondere Herausforderung, eine Mannschaft, wenn sie ganz oben ist, nochmals weiterzuentwickeln.“ Doch auch Löw konnte nicht verhindern, dass der Weltmeister das Jahr sportlich gesehen mehr verwaltete denn gestaltete.

In der deutschen Fußballnationalmannschaft sind personelle Veränderungen unumgänglich

Das wird nicht mehr möglich sein, wenn der Weltmeister nach der Sommerpause in der EM-Qualifikation gegen den Tabellenführer Polen (4. September), in Schottland (7. September) und in Irland (8. Oktober) gefordert ist. Auch personell werden Veränderungen unumgänglich sein. Einige Spieler wie Roman Weidenfeller, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger sind 30 oder älter. Andere Spieler wie Marco Reus und Ilkay Gündogan, die bei der WM fehlten, müssen rasch zu ihrer Form finden. Die Debütanten seit der WM, Karim Bellarabi, Jonas Hector und Patrick Herrmann könnten Alternativen sein.

Aber der Bundestrainer wird die am Mittwoch beginnende EM der U 21 in Tschechien interessiert verfolgen. Dass ein solches Turnier große Wirkung entfalten kann, hat sich 2009 gezeigt. Damals holte Deutschland den EM-Titel mit Spielern wie Neuer, Boateng, Hummels, Özil, Benedikt Höwedes und Sami Khedira, die fünf Jahre später in Rio Weltmeister wurden.

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