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Mit ernsten Mienen zum schweren Spiel. Jochim Löw (l.) und Oliver Bierhoff erklären, warum die Nationalmannschaft antritt.

© dpa

Deutschland gegen die Niederlande: Das Pflichtspiel

Vier Tage nach den Anschlägen von Paris will die Nationalmannschaft mit der Partie gegen Holland ein Zeichen für die Freiheit setzen. Bundestrainer Löw spricht von einem "klaren Symbol".

Berlin - So ähnlich hat sich Joachim Löw auch vier Tage zuvor geäußert, und trotzdem haben seine Worte nach den Anschlägen von Paris am vergangenen Freitag jetzt einen ganz anderen Hintergrund. „Das Ergebnis wird nicht die entscheidende Rolle spielen“, sagt der Bundestrainer vor dem Länderspiel gegen die holländische Nationalmannschaft. So wie er das auch in Paris gesagt hat, am Tag vor Spiel im Stade de France gegen Frankreich: weil ihm die sportlichen Erkenntnisse nämlich wichtiger seien als das Resultat.

Inzwischen ist nichts unwichtiger als sportliche Erkenntnisse. Darum wird es heute in Hannover nicht einmal am Rande gehen. Es geht um viel mehr als das.

Dass dieses Spiel gegen Holland (20.45 Uhr/ZDF) wie geplant und doch ganz anders stattfinden wird, bezeichnet Löw als „eine klare Botschaft, ein klares Symbol – für die Freiheit und die Demokratie“. Nein, wir lassen uns nicht unterkriegen, lautet die Botschaft, auch wenn der Terror uns so nahegekommen ist wie nie zuvor. Die Terroristen in Paris haben das Spiel des Weltmeisters vermutlich mit Bedacht gewählt, um eine möglichst große öffentliche Wirkung zu erzielen. Genauso soll jetzt auch von Hannover ein Signal ausgehen. „Wir wissen, dass wir gefordert sind, für unsere Werte, unsere Kultur, unsere Freiheit einzustehen“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager des Nationalteams.

So wie das Spiel kein normales sein wird, schon weil in Hannover Polizisten mit Maschinenpistolen patrouillieren werden, so ist auch die Pressekonferenz tags zuvor keine normale. Niemand fragt, wer links hinten verteidigen wird. Und als ein holländischer Journalist um eine sportliche Einschätzung des Gegners bittet, antwortet Löw: „Es steht mir nicht zu, am heutigen Tag über den Gegner zu sprechen.“

Der Begriff Betroffenheit ist bei derartigen Ereignissen schnell bei der Hand. Diesmal trifft er auch im Wortsinn auf die Nationalmannschaft zu. Ihr Spiel in St. Denis war eines der Ziele der Attentäter. Auch drei Tage danach wirkt Löw noch sichtlich angefasst. Schon die Bombendrohung am Vormittag habe im Team zu einer gewissen Unruhe geführt, berichtet er, und als es während des Spiels den ersten lauten Knall gibt, habe jeder „irgendwie das Gefühl gehabt, dass das keine normalen Böller sind“.

Bei der Pressekonferenz äußern sich Löw und Bierhoff zum ersten Mal über die Geschehnisse in der Kabine, in der die Mannschaft die ganze Nacht ausharren musste. Löw spricht von einer „Gefühlswelt, die völlig durcheinander war“. Nationalspieler Jerome Boateng, der verletzt ausgewechselt wurde, hat dem „Kicker“ erzählt, dass er in der Pause auf seinem Telefon die eingegangenen Nachrichten gelesen habe und zumindest in groben Zügen informiert gewesen sei. Der Rest des Teams hingegen erfährt erst nach dem Abpfiff von den Anschlägen. „Am Anfang war große Nervosität, große Unruhe, eine gewisse Angst zu spüren“, sagt Löw. Und Oliver Bierhoff berichtet, dass ihn ein Spieler gefragt habe, „ob wir nicht direkt abreisen können, weil sich keiner mehr richtig sicher gefühlt hat“. Rund 80 Leute verbringen die Nacht in der Kabine, schlafen kann kaum jemand. „Man muss funktionieren“, sagt Bierhoff, der mit seinem Stab versucht hat, die Rückreise zu organisieren, und unter anderem einen Anruf der Bundeskanzlerin erhält, die sich über die Situation informieren will.

„Die Spieler haben überhaupt nicht daran denken können, wieder Fußball zu spielen“, berichtet der Manager des Nationalteams. Er habe bei ihnen sogar „das Bedürfnis, nicht spielen zu wollen“, festgestellt. Löw empfindet es ähnlich. „Natürlich geht’s weiter“, sagt er. „Wir müssen den Blick nach vorne richten – die Frage ist, wie schnell man das schafft.“ In der Nacht im Stadion macht er kein Auge zu, für eine halbe Stunde zieht er sich in den Mannschaftsbus zurück, um über alles nachzudenken. „Gibt es denn nichts Wichtigeres als den Fußball?“, fragt er sich. Als Löw am Samstag in Frankfurt am Main aus dem Flugzeug steigt, ist er zu dem Schluss gekommen, dass das Spiel gegen die Holländer „nicht stattfinden kann und stattfinden soll“.

Am Ende aber, nach einer Nacht Bedenkzeit, haben sie beim Deutschen Fußball-Bund so etwas wie eine innere Verpflichtung verspürt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Der Bundestrainer sieht das Spiel auch als ein Zeichen des Mitgefühls für die Opfer der Anschläge und ihre Hinterbliebenen: „Wir werden in jeder Phase des Spiels mitfühlen und mittrauern.“ Bierhoff berichtet von unglaublich vielen Zuschriften, Mails und Briefen, in denen unter anderem vorgeschlagen wird, die Deutschen sollten im Trikot der Franzosen spielen. Vizekanzler Sigmar Gabriel, der mit Angela Merkel im Stadion sein wird, „fände es toll, wenn dort die Marseillaise gespielt werden würde“. Bierhoff kann noch nichts Konkretes zu den Planungen sagen, nur so viel: „Natürlich wird am Anfang des Spiels etwas passieren.“

Und natürlich wird das Rahmenprogramm dem Ereignis angepasst werden, ohne Gute-Laune-Musik und die übliche Event-Animation. „Partystimmung ist nicht angebracht“, sagt Löw. Genauso wenig wie Schmähgesänge gegen den Erzrivalen. Der Bundestrainer wünscht sich, „dass die sportliche Rivalität mit Holland erst einmal in den Hintergrund tritt“. Einheit statt Feindschaft – das soll die Botschaft sein, auf dem Feld wie auf den Rängen. Wenn man das Spiel so verstehe, sagt Joachim Löw, „dann haben wir unabhängig vom Ergebnis gewonnen“.

Leitartikel, Seite 1

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