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Mutlu

© Kai-Uwe Heinrich, HF

Deutschtürken: Flagge zeigen? Das habt ihr von uns!

Wir Deutschtürken haben den Deutschen erst beigebracht, dass man locker die Fahne hissen kann, schreibt der Kreuzberger Özcan Mutlu. Hier erklärt der Berliner Grünen-Politiker, warum er im Halbfinale zu beiden Mannschaften hält.

Ich gestehe offen ein, dass ich fußballtechnisch, wie im übrigen viele Berliner/-innen türkischer Herkunft dieser Tage, doppelt integriert bin: Mein Herz schlägt für die Ballack-Elf und die Altintop-Elf. Wobei Letzterer locker auch ein Teamkollege von Ballack sein könnte, hätten die DFB-Funktionäre die Zeichen der Zeit erkannt. Es waren nämlich „Bindestrich-Kicker“, die das Spiel der Gastgeber Schweiz und Österreich ein wenig ansehnlich machten. Da wäre zum Beispiel Hakan Yakin, der alle Tore für die Schweiz schoss und zwei weitere TurkoSchweizer als Kollegen im Kader hatte. Oder Ümit Korkmaz, der Turko-Österreicher, der maßgeblichen Anteil hatte an jeder österreichischen Glanzleistung. Ja, des turkodeutschen Herz schlägt für die Löw-Elf, wie für die Terim-Elf. Das ist auch gut so!

Am 20. Juni dieses Jahres bot sich der Türkei die Chance, zum ersten Mal seit Menschengedenken ins Halbfinale der Europameisterschaft zu kommen. Da habe ich natürlich für die türkische Elf gehofft und gezittert und anschließend, nach ihrem Sieg über die kroatische Mannschaft, ordentlich gejubelt und bin wie viele zum Ku’damm geeilt. In Wien haben die türkischen Spieler während dieser EM erneut in letzter Minute gewonnen. Und jedes Mal zog sich das Match erst zäh und lange hin, bis schließlich die türkische Mannschaft das Blatt in letzter Minute noch wenden konnte. Dreimal hintereinander. So wird Fußballgeschichte geschrieben! Man kann sagen, die Türken müssen erst im Rückstand liegen, damit sie das Feld als Sieger verlassen. Oder: willst du gegen die Türken gewinnen, sorge dafür, dass sie nicht in Rückstand liegen…

Ich finde die Erfolge des hungrigen türkischen Teams großartig und freue mich über ihre Siege. Allerdings, als Deutschtürke ist meine Favoritin auch die deutsche Nationalmannschaft. Damit bin ich unter all den Turkodeutschen oder Deutschtürken überhaupt nicht alleine. Und genau wie schon beim WM-Sommermärchen 2006, als die Welt bei uns zu Gast war und wir alle irgendwie Brasilianer waren, haben vor allem und besonders Berliner/-innen mit sogenanntem türkischen Migrationshintergrund, wie jetzt wieder, ihre Autos und Fenster schwarz-rot-gold dekoriert. Ich gestehe, dass ich das nicht unbedingt für selbstverständlich gehalten habe. Wir sind nämlich noch lange nicht so weit, uns in allen unseren Facetten untereinander als eine Republik zu begreifen. Aber, trotz all der bleischweren Bedenken und Mahnungen, wie weit Integration gehen kann und ob sie nicht sowieso von Grund auf gescheitert sei, flattert dennoch das Bekenntnis zu Deutschland im Fahrtwind junger Berliner Türken. Neben den obligatorischen türkischen Fahnen und Wimpeln weht auch schwarz-rot-gold, die Farben der deutschen Demokratie. Dieser Fahrtwind bläst freilich kein einziges der Integrationsprobleme weg, denen sich Politik und Gesellschaft, Mehrheitskultur und Einwanderer-Community zu stellen haben. Doch ist er immerhin ein kleiner Hinweis, dass integrationspolitisch in diesem Land Windstille nur für jene herrscht, die schon immer alle Fenster und Türen von innen verrammeln wollten. Dass nun aber ausgerechnet Migranten und ihre Sprösslinge fußballhalber bundesdeutsch Flagge zeigen, lässt dies ohne weiteres auf so etwas wie gelungene Integration schließen? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es aber ein sichtbares Symbol dafür, wie viele Menschen nichtdeutscher Vergangenheit, aber deutscher Gegenwart in unserem Land dennoch mental angekommen sind. Zum Leidwesen mancher konservativer Politiker, können sie doch dieses zarte Pflänzchen der Integration nicht ertragen.

Niemand bestreitet, dass es noch sehr viel zu tun gibt in unserem Land. Integration ist eben ein wechselseitiger Prozess und kein fortwährendes Straßenfest. Für dessen Gelingen sind wir alle gemeinsam verantwortlich. Die Pflichten der Mehrheitsgesellschaft und die der Minderheiten sind dabei zwei Seiten derselben Medaille. Wie mit Teamgeist und Zusammenspiel Integration gelingen kann, zeigen etliche Sportvereine in dieser Republik tagtäglich. Vor wenigen Wochen hat der Kreuzberger Fußballklub Türkiyemspor den Integrationspreis des Deutschen Fußballbundes für seine vorzügliche Jugend- und Integrationsarbeit erhalten. Wer einem Public Viewing im Vereinshaus von Türkiyemspor beiwohnt, versteht, dass diese Ehrung mehr als gerechtfertigt ist. Ich war bei jedem Public Viewing in den Türkiyem-Räumlichkeiten in der Kreuzberger Admiralstraße beeindruckt von der Atmosphäre und dem Miteinander zwischen Deutschen, Türken, Turkodeutschen und anderen Spezies, die gemeinsam für die deutsche und türkische Elf gefiebert haben. Und das auf zwei gegenüber liegenden Leinwänden, mal mit deutschem TV-Kommentar und mal mit türkischem. Und überall hingen deutsche und türkische Flaggen. Den Deutschen wird oft nachgesagt, ihr Verhältnis zur eigenen Flagge sei etwas verkrampft. Dafür gäbe es auch Gründe genug. Aber wie schon vor zwei Jahren, haben auch jetzt während der Europameisterschaft die vielen „Ausländer“ mit Bindestrich-Identitäten etlichen „Bio-Deutschen“ beigebracht, wie man das Flaggezeigen ein bisschen lockerer sehen kann. Das Zeigen der Farben der deutschen Republik zu öffentlichen Anlässen, wie einer WM oder EM, muss nicht immer mit dumpfen Nationalismus zu tun haben.

Meiner Begeisterung über das türkische Wunder von Wien wird ein Wunder von Basel keinerlei Abbruch tun, im Gegenteil. Vielleicht wird am Mittwochabend die deutsche Mannschaft das Spiel gewinnen, vielleicht die türkische. Wir gewinnen immer, wir können überhaupt nicht verlieren, egal wer nun ins Finale am Sonntag einzieht! Es wird für uns Turkodeutsche oder Deutschtürken keine Schmach von Basel geben, sondern auf jeden Fall ein weiteres Kapitel aufregender gemeinsamer Fußballgeschichte. Wir können und werden die Feste feiern wie die Tore fallen. Und wir werden jeden Sieg feiern. Warum auch nicht!

Özcan Mutlu ist bildungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin

Özcan Mutlu

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