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Sport: Die Ästhetik der Fehlentscheidung

Das Foul im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Ein Plädoyer gegen den Videobeweis

Von Wolfram Eilenberger

Z ugegeben, ich habe Uwe Seeler nicht eigens gefragt. Aber ich bin mir sicher, auch er ist dagegen. Schließlich muss man sich nur ausmalen, was geschehen wäre, anno 66 in Wembley, hätten innovationsfreudige Fifa-Obere damals das Mittel des Videobeweises (neudeutsch: Instant Replay) zum großen WM-Finale erstmals eingeführt. Vermutlich stünden unsere Endspielhelden dann noch heute in ihren Stutzen, Hosen und Leibchen auf Englands Rasen, alt, müde und verbittert, noch immer in Erwartung einer Entscheidung, die nie eintrifft.

Als Instinktfußballer wie als Instinktfan sträubt sich da etwas im tiefen Inneren, sträubt sich ganz grundsätzlich gegen die entscheidungsrelevante Anwendung technischer Überwachungsmittel auf dem Fußballplatz. Stünde eine enge Abstimmung bevor, dann ließe sich dieses Unbehagen in der Fußballkultur gewiss gewinnbringend auf die Formel einer drohenden „Amerikanisierung des Weltfußballs“ bringen. Schließlich wurde der gerade in der vergangenen Woche von Hertha BSC heftig eingeforderte Videobeweis zuerst in den amerikanischen Football- und Eishockeyligen angewandt und hat sich mittlerweile weltweit durchgesetzt.

Doch sind die durchaus positiven Erfahrungen in diesen Sportarten, ginge es um eine rein sachliche Argumentation, nur sehr eingeschränkt auf die Notwendigkeiten des Fußballs übertragbar. Denn im Gegensatz zu den in sich jeweils abgetrennten, extrem beteiligungsreichen und auf klar bezifferbaren Raumgewinn ausgerichteten Spielzügen des American Football widerstrebt der von einem Kontinuitätsideal geprägte Spielrhythmus des Fußballs einer längeren Entscheidungsfindung seitens der Schiedsrichter. Wer würde, um ein damit verbundenes Beispiel zu nennen, im Fußball daran denken wollen, zwischen Torschuss und Abstoß noch schnell einen Werbeblock einzuschieben? Die Amerikaner!

Auch der im Eishockey auf die Dichte von Torraumszenen beschränkte Einsatz von Videobildern findet in dem wahrnehmungsüberfordernden Verhältnis von Spielgerätgröße und Schussgeschwindigkeiten eine spielspezifische Begründung.

Wenn überhaupt, dann hätte der Einsatz technischer Entscheidungshilfen sich allerdings auch im Fußball auf torrelevante Linienentscheidungen zu begrenzen. Alles andere, insbesondere die Anwendung bei den gängigsten und erregendsten Streitfällen von Abseits- und Foulentscheidungen, würde den Charakter des Fußballs grundlegend ändern.

Wie sollte eine mit Video aufgehobene Abseitsfehlentscheidung eigentlich geahndet bzw. fortgesetzt werden? Per Freistoß am Geschehensort? Und wo wäre dieser festzulegen, am Ort der Passgabe oder auf Höhe des Angespielten zum Abspielzeitpunkt? Oder ließe man im heiklen Zweifelsfall – beim Fußballabseits bekanntlich eher Regel als Ausnahme – zunächst einmal weiterspielen, um dann nach abgeschlossener Aktion videounterstützt zu entscheiden? Damit aber wäre es um den taktischen Mehrwert des für den modernen Fußball zentralen Mittels der Abseitsfalle sicher geschehen.

Der Videosegen würde für alle Beteiligten schon bald zum Albtraum, insbesondere dann, wenn man bedenkt, wie stark die Spielstruktur ästhetischen Fußballs von einem nahtlosen, kontinuierlichen Ineinandergreifen von einer Aktion zur nächsten geprägt ist, wie heiter sich, gerade durch in der Nachbetrachtung hervortretende „Fehlentscheidungen", eine Szene überraschend aus der anderen zu entwickeln versteht.

Der felddeckend eingeführte Videobeweis würde hier also entweder in eine permanent empfundene, ausgesprochen lustmildernde und jedenfalls wesensfremde Vorbehaltlichkeit der Spielwahrnehmung führen, oder, und vermutlich noch verheerender, zu einer forschreitenden Atomisierung in einzelne, jeweils reklamationsoffene Spielszenen. Ein schlechter Schiedsrichter mag gelegentlich ein Spiel zerpfeifen. Bei flächendeckender Videoüberwachung aber würde solch unselige Zerstückelung erwartbare Regel.

Man braucht in seiner grundsätzlichen Abwehrhaltung gegenüber dem Videobeweis allerdings weder die populäre Dämlichkeit von einer drohenden Amerikanisierung noch die rational wohl ebenso schwer einzuholende Rede vom Fußballinstinkt zu mobilisieren. Eigentlich muss man überhaupt nicht argumentieren. Schließlich gibt es da etwas Schlagenderes, einen unanfechtbaren Fotobeweis nämlich: der Spieler Uwe Seeler und die Art und Weise, wie er den Rasen von Wembley verlässt.

Der Autor ist Philosoph und berichtet an jedem ersten Sonntag des Monats aus dem Elfenbeinturm.

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