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Sport: Die Frage nach dem System

Verlangt der Fußball nach einer neuen Begrifflichkeit?

Von Wolfram Eilenberger

Gleich den besten unserer Profis kamen auch wir Fans noch platt und emotional leer aus dem WM-Urlaub. Mühsam suchen wir Bindung zur neuen Saison. Und bereits ein kurzer Blick auf die Tabellenspitze (Bochum vor Rostock) erhellt, wie wenig ernst zu nehmen der Ligaprolog im Grunde war. Während die wahren unter den Amateuren sich an diesem Wochenende für den Pokal begeistern, wollen wir den Zeitraum der Länderspielpause zur begrifflichen Neuorientierung nutzen. Neben dem erfrischenden Hochgefühl der Finalteilnahme hinterließ die vergangene Weltmeisterschaft beim geschulten Betrachter nicht zuletzt einen Zustand systematischen Unbehagens.

Gedacht ist hier weniger an die zahlreichen Ergebnisüberraschungen als an die beständig stärkeren Zweifel, ob man sich mit der zur Verfügung gestellten Begrifflichkeit überhaupt noch befriedigend orientieren kann. Global wurde zwar immer wieder das taktische Auftreten von Überraschungsmannschaften wie Senegal, Deutschland, Japan oder Südklorea gelobt. Auf die Frage jedoch, welches System (4-4-2, 3-5-2, 4-5-1, 3-4-3?) die extrem lauffreudigen Herren eigentlich praktizierten, blieben befriedigende Antworten aus.

Insbesondere die so genannten taktischen Aufstellungen, die unsere Fernsehsender vor Anpfiff aufs Spielfeld projizierten, erwiesen sich im Verlauf als Farce. Zwischen Fußballtheorie und Empirie klafft eine schwer zu übersehende Lücke.

Zwar ließe sich entgegenhalten, weltbeste Mannschaften seien eben in der Lage, ihre systematische Gesamtausrichtung je nach Spielstand und unter Umständen sogar je nach spezifischer Situation zu variieren, sodass sich die Frage nach dem Spielsystem eines Teams schlicht verbiete. Doch scheint in solcher Erwiderung eben jenes Zugeständnis enthalten, um das es hier gehen soll: nämlich, dass die derzeit angewandten taktischen Beschreibungsmittel dem Spielgeschehen nicht mehr gerecht werden.

Möglicherweise, um es frei heraus zu denken, gehört nicht nur die Vorstellung des jeweils einen Systems, sondern gar die bei aller Diskussion stillschweigend angenommene Voraussetzung einer klar in Abwehr, Mittelfeld und Angriff konturierten Spielordnung zu jener Sorte von Abstraktion, die den Blick auf den tatsächlichen Prozess eher verdunkelt als erhellt.

Die im vorigen Jahrzehnt als Folge der 4-4-2-Innovation vollzogene Metaphernumstellung vom statischen „Block“ zur flexibleren „Kette“ jedenfalls bekommt die derzeitigen Beschreibungsprobleme nicht in den Griff. Ganz im Gegenteil beförderte die Leitmetapher der „Kette“ die vorherrschende Desorientierung, da sie die Annahme von positionell klar trennbaren Mannschaftsteilen stützt. Die liebevolle Rede von der „Pärchenbildung“ schließlich trifft in ihrer Betonung feldübergreifender Relationalität zwar Richtiges, doch lassen sich die auf dem Platz tatsächlich eingegangenen Bindungen nur sehr schwer in ein bürgerliches Beziehungsmodell pressen. Zu flüchtig sind die Kontakte, zu zahlreich die Partner. Das beeindruckende Permapressing der südkoreanischen Vorrundenauftritte legte eher das Bild von „funktionalen Zellen“ nahe. Äußerst flexibel agierende Kleinstgruppen also, die lokal Druck ausüben, um sich nach erfolgter Aktion sofort wieder frisch zu sortieren.

Hand in Hand mit einer in jedem Fall angezeigten Verabschiedung der starren Mannschaftsteilterminologie hätte ferner ein grundlegendes Umdenken vom Positions- auf den Funktionsbegriff zu gehen. Denn in der gängigen Annahme, die per „taktische Aufstellung“ vollzogene Positionsbestimmung erfasse gleichsam die Funktion eines betreffenden Spielers, verbirgt sich ein verhängnisvoller Doppelfehler.

Zum einen ließen sich diese angeblichen Positionen, verfolgte man die Laufwege der einzelnen Akteure über 90 Minuten, nur noch in den selteneren Fällen plausibel rekonstruieren. Seit zehn Jahren etwa wird uns der Unsinn vom famosen Roberto Carlos als bestem „linken Verteidiger“ der Welt zugemutet, obwohl der Herr selbst dann, wenn er mal hinten sein sollte, dort allenfalls durch Stellungsfehler auffällt. Andererseits kämpfen europaweit immer mehr „Mittelfeldspieler“ (Ballack, Ljungberg) um Torjägerkronen. Und ganz ohne Hintersinn darf man den eigentliche Mehrwert von Spielern wie Dortmunds „Stürmer“ Jan Koller in ihrer Defensivarbeit erkennen.

Bislang ist es nur ein Verdacht. Doch scheint es, als ob die Frage nach dem System heute zu einer grundsätzlichen Revision vertrauter taktischer Grundmuster führen wird. In diesem Sinne hätten nicht zuletzt die deutschen Nationalspieler – wir erinnern daran, wie genervt sie in Japan auf Anfragen nach ihrem Spielsystem reagierten – auf dem Weg zu neuen Titeln bereits ein Spielverständnis verinnerlicht, zu dessen adäquater Beschreibung die geeigneten Mittel augenscheinlich noch fehlen.

Der Autor berichtet immer am ersten Sonntag des Monats aus dem Elfenbeinturm

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