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Sport: Die Geheimniskrämer

Regeln wie bei der Armee, Kreativität wie im Atelier, Erfolg nach Plan: Das chinesische Tischtennis ist ein Rätsel

Bremen. An Tisch fünf in der Bremer Stadthalle spielt gerade die Olympiasiegerin von 2008. Guo Yue soll in Peking die Goldmedaille im Damen-Einzel gewinnen. So hat es sich die Tischtennis-Führung von China ausgedacht. „Sie ist das größte Talent, das wir bisher hatten“, bestätigt ein Sekretär des chinesischen Verbandes. Mit ihren Einschätzungen haben die Chinesen im Tischtennis selten daneben gelegen. Im Viertelfinale der German Open scheitert Guo Yue zwar knapp an Guo Yan aus China, aber ein Pro-Tour-Turnier hat sie schon gewonnen. Bei den Japan Open im September war sie die bislang jüngste Siegerin eines Pro-Tour-Turniers.

Guo Yue ist 15 Jahre alt und sieht unauffällig aus. Einen Kurzhaarschnitt hat sie, knabenhafte Gesichtszüge und nicht gerade viel Temperament. Den Mythos des chinesischen Tischtennis aber wird sie noch vergrößern. China ist nicht nur das Land, aus dem seit Jahrzehnten die besten Tischtennis-Spieler der Welt kommen. Aus China kommen auch die größten Geheimnisse der Sportart.

Die Neugier ist in Europa genauso hoch wie die Angst vor dem chinesischen Tischtennis. In Deutschland kursiert die Aussage, dass jeder chinesische Schulhausmeister noch in der Nationalmannschaft spielen könnte, und der ehemalige Europameister Jean-Michel Saive aus Belgien hat nach einem verlorenen WM-Mannschaftsfinale gesagt, dass es nur eine Chance gibt, die Chinesen zu besiegen: „Wenn sie den Bus verpassen.“ Im Mai, bei der Einzel-Weltmeisterschaft in Paris haben die Europäer sich immerhin einen Titel zurückholen können. Der Österreicher Werner Schlager gewann das Herren-Einzel. Bei der Weltmeisterschaft 2001 und bei Olympia 2000 hatten die Chinesen alle Goldmedaillen mitgenommen.

Die Macht des chinesischen Tischtennis beruht vielleicht auf fernöstlichen Geheimnissen, aber auch auf einfachen Erklärungen. In China gibt es Millionen von Tischtennisspielern. Junge Spieler wollen in der Nationalsportart nach oben kommen, dann können sie reisen, haben ein gutes Auskommen und können in Wirtschaft und Politik Karriere machen. Cai Zhenhua, der chinesische Nationaltrainer, hat etwa nach dem Höhepunkt seiner Karriere für gute Gage in Italien gespielt. Jetzt strebt er angeblich das Amt des Sportministers an.

In China machen es aber nicht nur diese Anreize aus. „Die Chinesen trainieren zwei Stunden länger am Tag“, berichtet Jie Schöpp. Sie hat das Training jahrelang mitgemacht, bevor sie nach Deutschland auswanderte. Der Tag eines chinesischen Nationalspielers sehe so aus: „Jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen, um neun Uhr Training und abends um zehn ins Bett“, erzählt sie. Sonntagabends hätte sie auch mal ins Kino gehen dürfen, „aber nur wenn man vorher noch Aufschläge trainiert hat“. Der Trainer ist auch Elternersatz und Lehrer, also uneingeschränkte Autorität. „Wenn du Weltmeister geworden bist, darfst du vielleicht mal den Trainingsplan ändern“, sagt Jie Schöpp.

Ein anderer Grund für die Überlegenheit der Chinesen ist ihre Kreativität. Wenn es Patente auf Tischtennisschläge gäbe, die Chinesen würden die meisten halten. Oft werden Schläge an Universitäten entwickelt und dann im Training angewendet. Einige Spieler müssen die neue Technik antrainieren. Was keinen Erfolg verspricht, verwerfen die Trainer. Die Chinesen waren aber auch nicht zu stolz, um von den Europäern einiges zu lernen. Der Weltranglistenerste Ma Lin ist der Konkurrenz zurzeit nicht nur dadurch voraus, dass er die wohl schnellsten Beine der Tischtennis-Welt hat. „Er spielt jeden Schlag schief“, sagt Timo Boll, der bis vor kurzem selbst Nummer eins der Weltrangliste war. Schiefe Schläge, damit meint Boll, dass Ma Lin den Ball nicht gerade trifft, sondern ihm noch seitliche Rotation mitgibt.

Den Chinesen ist die Geheimniskrämerei selbst ein beliebtes Erfolgsmittel: Zur WM 1995 schickten sie den Abwehrspieler Ding Song, der vorher so gut wie keine internationalen Turniere gespielt hatte, um den Mannschaftstitel von den Schweden zurückzuerobern. Es gibt auch das Gerücht, dass die Trainer manchmal den Sieger bestimmen, wenn zwei Chinesen gegeneinander spielen. Cheftrainer Cai Zhenhua hat immerhin bestätigt, dass China früher anderen Ländern auch mal einen Weltmeistertitel geschenkt hat – ein Ergebnis der Kulturrevolution: „Zuerst kommt die Freundschaft, dann der Wettkampf“. Die europäischen Herren haben Geschenke inzwischen nicht mehr nötig. Sie haben aufgeholt. Timo Boll hat zum Beispiel gehört, dass es in China Spieler geben soll, die seine Technik kopieren, um die Nationalmannschaft auf ihn vorzubereiten. Es soll sogar eine schwarze Liste geben, auf der sein Name steht. „Ich darf nicht nach China zum Trainieren fahren.“ Er könnte ja spionieren.

Insgesamt ist das chinesische Tischtennis jedoch offener geworden. Gerade bei den Damen bemühen sich die Chinesen um Entwicklungshilfe für Europa. Sie schicken Trainer oder laden Spielerinnen ein. Ihre Überlegenheit bei den Damen haben sie als Gefahr fürs Tischtennis erkannt. Vor allem aber befindet sich das politische System im Wandel. Der Staatssport wird milder. Mittlerweile dürfen mehr chinesische Spieler ausreisen. So sind in fast jeder zweiten Nationalmannschaft chinesische Spieler oder Trainer zu finden. Die deutsche Damenmannschaft etwa hätte ohne Jie Schöpp und Qianhong Gotsch nicht den EM-Titel gewonnen.

Dem perfekten System wäre aber beinahe das größte Talent verborgen geblieben. Guo Yue ist bis zum elften Lebensjahr durch alle Sichtungen gefallen. Dann kam ein Trainer in ihre Schule, entdeckte ihr Talent und holte sie sofort nach Peking. Dort reichten ihr drei Jahre Training, um in die Weltspitze zu kommen. Auch das klingt wie ein Rätsel.

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