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Sport: Die gewonnene Zeit

Von Erik Eggers Bochum. Auf welchem Teil der Tartanbahn sind wohl die nötigen Hundertstel liegen geblieben?

Von Erik Eggers

Bochum. Auf welchem Teil der Tartanbahn sind wohl die nötigen Hundertstel liegen geblieben? Beim Start? Zwischen den Hürden? Auf den letzten zehn Metern? 100-Meter-Hürdensprinterin Kirsten Bolm hatte viel Zeit, über die verpasste Qualifikation zu den Olympischen Spielen 2000 nachzudenken. Einmal fehlten ihr zwei Hundertstel zur Norm, einmal drei. „Eine ganz bittere Erfahrung“, sagt Bolm heute. Sofort flog die Studentin damals in die kleine Stadt Provo im US-Bundesstaat Utah, obwohl ihre Seminare dort erst wieder im Oktober begannen. „Ich wollte weg aus Deutschland“, sagt die 1,81 Meter große Blonde mit den langen Haaren. Ihren Wettbewerb hat sie sich gar nicht erst angeschaut, „nur hinterher die Zeiten“. Das vergrößerte den Frust noch: „Ich wäre im Halbfinale dabei gewesen.“ Sie ist in ein tiefes Motivationsloch gefallen.

Der Hürdenlauf passt zu Bolm, die beim kleinen Klub TV Scheeßel in Niedersachsen begann und heute für die LT DSHS Köln startet. Denn der verpasste Olympiastart war beileibe nicht das erste Hindernis in ihrer Karriere. 1994 bereits hochgelobte Junioren-Weltmeisterin, fand sie keinen Anschluss an die Spitze im Erwachsenenbereich, nicht einmal auf nationaler Ebene. „Vier, fünf Frauen liefen damals um die 13 Sekunden, davon war ich noch weit entfernt“, erinnert sich Bolm, da habe ihr der Ehrgeiz gefehlt. Sie zog zu Hause aus, lernte neue Freunde kennen, hörte ganz auf.

„Vorher hatte ich nur trainiert und bin nie weggegangen“, erklärt sie. „Ich hatte einfach Nachholbedarf, wollte auch mal leben wie ein normaler Mensch.“ Ohne Sport.

Zwei Jahre später startete sie ein zartes Comeback. Sie bekam ein Stipendium in Utah, entdeckte dort ihre Disziplin wieder. „Wenn ich gescheitert wäre“, sagt sie, „dann hätte das zu Hause keiner mitbekommen.“ Trotz des wiedergefundenen Spaßes aber fehlte ihr das individuelle Training, sie teilte sich den Coach mit 40 anderen Frauen. Deshalb kam sie doch zurück. Sie wird von Bundestrainer Rüdiger Harksen in Mannheim betreut, ihr Psychologiestudium führt sie in Heidelberg weiter.

Offenbar stimmt das Umfeld. Die Leistungen auf hohem Niveau jedenfalls sind stabil, seit Wochen sprintet sie zu persönlichen Bestzeiten. Die 12,85 Sekunden vom Europacup hat sie letzten Dienstag beim Meeting in Lausanne erneut um eine Hundertstel verbessert. Aber sie sieht noch mehr Potenzial. „Auf den ersten vier, fünf Hürden bin ich noch nicht so schnell wie in der Halle, da ist noch ein Zehntel drin.“ Die deutschen Meisterschaften in Wattenscheid waren da nur eine Zwischenstation. Souverän gewann Kirsten Bolm am Sonntagabend ihren dritten Titel in Folge, war angesichts der mäßigen Zeit von 13,04 Sekunden aber etwas unzufrieden mit ihrem Siegeslauf.

Doch das Ziel sind ohnehin die Europameisterschaften vom 6. bis 11. August in München. Dort avanciert sie, die 27-jährige Spätzünderin, zur deutschen Hoffnung, auch weil sie bei der letzten Hallen-EM in Wien schon Silber gewann. „Das würde ich gern wiederholen“, sagt sie selbstbewusst, „aber alles zwischen Platz eins und acht ist möglich.“ Hürdenlauf ist Unwägbarkeit, Lotteriespiel, manchmal Zufall. Außerdem werden in München Athletinnen auftauchen, „von denen man die ganze Saison nichts gehört hat“.

Bei den Läuferinnen haben erst Sonja Oberem (Marathon) und die Dortmunder Sprinterin Sina Schielke die äußerst strenge EM-Norm erfüllt. Andere profitieren von der weichen „Junioren-Norm“ oder davon, dass der Deutsche Leichathletik-Verband (DLV) in allen Disziplinen eine Athletin an den Start schicken will. Viele zitterten sich gestern in Wattenscheid zur EM. Kirsten Bolm aber hatte die Hundertstel, die ihr vor zwei Jahren noch fehlten, schon lange aufgelesen.

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