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Sport: Die Rache der Gekränkten

Warum die britische 4 x 100-m-Staffel mit ihrem Sieg gegen die USA eine alte Rechnung beglichen hat

Maurice Greene setzte mit viel Mühe jenen Gesichtsausdruck auf, mit dem er auch die Uhrzeit mitteilt. „Ach Mann, was soll’s, es gibt halt Dinge, die passieren einfach“, sagte er. Es war Mitternacht, er saß zusammen mit seinen Kumpels Shawn Crawford, Justin Gatlin und Coby Miller auf dem Podium im Presseraum des Olympiastadions, und er versuchte, eine ziemlich üble Nummer zur Bagatelle herunterzureden. Dass die 4 x 100-m-Staffel der USA in 38,08 Sekunden nur Silber gewonnen hatte gegen die Briten, ausgerechnet die US-Stars, die im 100-m-Finale drei Mann unter den ersten vier hatten, und ausgerechnet gegen die Briten. Das hat die US-Sprinter in Wirklichkeit tief getroffen. Man sah es an den Gesichtsausdrücken der anderen. Es hatte nichts genützt, dass Maurice Greene die letzten 100 Meter fantastisch gerannt war und Mark Lewis-Francis fast noch abgefangen hätte. Nur eine Hundertstelsekunde lag der dreimalige 100-m-Weltmeister hinter dem Briten. Aber es war trotzdem nur Silber.

Es hätte klar Gold sein müssen, wie 2000 in Sydney. Es wäre auch sicher Gold geworden, wenn nicht Coby Miller fast zum Stehen gekommen wäre, als er den Staffelstab von Justin Gatlin übernehmen wollte. Der Wechsel war völlig verpatzt. „Hey Boys“, sagte Greene, „wir haben in dieser Besetzung nur einmal Wechseltraining gemacht.“

Die Briten haben gewonnen, das ist entscheidend. Für sie jedenfalls. „Denn hier ging es auch um Rache“, sagte Darren Campbell, der britische Sprinter, der auf Position zwei gelaufen war. An diesem Abend wurden alte Rechnungen beglichen. Die erste stammt von der WM 2003. Da hatten sich die Briten mit der US-Staffel einen erbitterten Kampf geliefert. Damals waren die US-Sprinter zwei Hundertstelsekunden vor den Briten ins Ziel gerannt. „Das war für uns sehr enttäuschend“, sagte Campbell. Aber sie hätten gesehen, dass sie dran sind an den US-Sprintern. Irgendwann, das hatten sie sich geschworen, würden sie diese großmäuligen US-Stars in der Staffel niederhalten. Irgendwann würden sie diesen Selbstdarstellern die Show stehlen.

Bis dahin war es nur Sport. Aber dann, Anfang vergangener Woche, wurde es zu einer persönlichen Sache. Da verkündete Michael Johnson, der 200- und 400-m-Weltrekordler aus Dallas, Texas, auf einer Medienparty in Athen, „dass Darren Campbell doch eine Verletzung vorgetäuscht hat, um zu erklären, warum er nicht schnell genug lief“. Campbell war im 100-m-Vorlauf nur 10,35 Sekunden gerannt und damit ausgeschieden. Für die Briten war das, als hätte Johnson ihnen ins Gesicht geschlagen. Er stand für die USA, er stand jetzt für Großmäuligkeit, er stand jetzt quasi für die US-Staffel. Und jetzt wollten sie es den Topsprintern erst recht zeigen. „Dieser Spruch hat mich sehr verletzt. Er hat meine Familie sehr verletzt“, sagte Campbell. Für ihn war das „die emotionalste Woche meiner Karriere“. Jetzt ging es nicht mehr bloß um Gold. Jetzt ging es um Ehre und Rache. Und deshalb feierten die Briten dieses Gold, als wäre die Queen plötzlich auf der Tartanbahn aufgetaucht.

Später fragte einer Campbell, was der denn jetzt Michael Johnson mitteilen wolle. Da griff sich der Sprinter die Medaille, spielte mit ihr herum und streckte sie einem Fotografen entgegen. Dann flötete Campbell mit zuckersüßer Stimme. „Ich habe eine Goldmedaille, Michael.“

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