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Sport: Die Revolution von Montevideo

Jürgen Klinsmann übernimmt die Führung: Das hat es in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft schon öfter gegeben

Partytime in Montevideo: Der deutsche Botschafter hatte zum Gartenfest geladen. An diesem Abend im Dezember 1992 ernannte sich Jürgen Klinsmann selbst zum Botschafter eines anderen Fußballs als jenen, den die Nationalmannschaft zwei Tage zuvor in Porto Allegre bei der 1:3-Niederlage gegen Brasilien runtergekickt hatte. Der gute Ruf stehe auf dem Spiel, erkannte Klinsmann, und forderte Teamgeist: „Statt einer tollen Aktion muss ich halt mal einem anderen Spieler 20 Meter hinterher sprinten.“ Also bitte: Absoluter Fight gegen Uruguay, die Botschaft kam an: Es folgte ein 4:1-Sieg, ohne den stänkernden Stefan Effenberg. Das vierte Tor bereitete ein Querpass-Geschenk von Andreas Möller vor, „weil der Jürgen so viel gearbeitet hat für die Mannschaft“.

Schon damals hat Jürgen Klinsmann Führungsqualitäten bewiesen, nur wenige Monate nach seinem Bekenntnis zum Egoismus: „Ich fühle mich für niemanden verantwortlich, ich muss niemandem irgendeinen Dienst erweisen.“ Und er hat an der Macht geschnuppert, Teamkapitän war Lothar Matthäus. Nicht mehr sehr lange. Gut drei Jahre später forderte sein Nachfolger Klinsmann fast wörtlich dasselbe, wie einst in Montevideo: „Ich erwarte auf dem Weg zur Europameisterschaft, dass jeder seine Interessen der Mannschaft unterstellt. Wir müssen die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.“ Nichts ist glaubhafter als ein Titel, und Klinsmann führte sein Team zum Gewinn der Europameisterschaft. Und er rühmte den Bundestrainer Berti Vogts, weil der den Spielern Verantwortung übertragen habe.

Vogts und Klinsmann spielen schon lange Doppelpass. Der Trainer holte den 16-jährigen Stürmer von den Stuttgarter Kickers ins DFB-Jugendteam, und er wies dem am heutigen Freitag 40 Jahre alt gewordenen schwäbischen Weltbürger 24 Jahre später den Weg zurück aus Los Angeles an die Spitze der Nationalmannschaft. Klinsmann kann heute sagen, was er will: Dort wollte er schon lange hin. Der DFB tat sich schwer, den sperrigen Querdenker adäquat zu beschäftigen. Als Botschafter für die WM 2006 sah sich Klinsmann als Fehlbesetzung. Jetzt diktiert er dem DFB knallhart seine Bedingungen, nicht nur finanziell. Weil er einen Job macht, den nur die haben wollten, die doch nicht gefragt waren. Seine Qualifikation? Siehe Franz Beckenbauer, siehe Rudi Völler.

Seine Ideen sind von Reformeifer geprägt und von Erfahrungen. Aber es scheint, als wolle er zu viel auf einmal, und nicht alles macht Sinn. Einen Sprinttrainer zu beschäftigen, bloß weil die Fußballer zu faul sind, wie einst Klinsmann in Stuttgart, notfalls privat einen zu verpflichten? Die Neigung, sich mit ihrem Beruf über den Spielfeldrand hinaus zu beschäftigen, ist bei der Generation nach Klinsmann weit weniger ausgeprägt als die Lust auf blonde Haarsträhnen. Ein Lebensweg wie der seine, vom Bäckergesellen zum Europa- und Weltmeister sowie Torschützenkönig Europas, interessiert die nicht.

Was imponiert, ist vielleicht die Serie renommierter Arbeitgeber: VfB Stuttgart, Inter Mailand, AS Monaco, Tottenham Hotspur, Bayern München, Sampdoria Genua. Und wie Klinsmann seinen ausgeprägten schwäbischen Geschäftssinn mit dem Image des Sonnyboys und alternativen Rucksacktouristen tarnte.

Der Stürmer Klinsmann hasste es, von anderen abhängig zu sein. Fähige Trainer waren für ihn jene, die ihm einen Stammplatz reservierten. Als Giovanni Trapattoni 1997 ihn wieder einmal vorzeitig auswechselte, trat er wutentbrannt ein Loch in einen Werbezylinder aus Pressspan. Und entschwand am Ende der Saison ablösefrei nach Genua, „um wieder Freude an der Arbeit zu finden“. Die hielt sich bei Trainer Cesar Luis Menotti und dessen Nachfolger Vujadin Boskov in so engen Grenzen, dass er schon im Dezember ein zweites Mal das Trikot von Tottenham Hotspur überstreifte.

Als DFB-Teamchef, ja selbst als Bundestrainer, der er ja jetzt sein will, ist Klinsmann wieder von den Trainern abhängig. Misstrauisch bis missgünstig beäugt die Branche den Seiteneinsteiger, seine Konzepte und Terminpläne. Holger Osieck wird nicht unter ihm arbeiten, einen erfahrenen Trainer aber braucht er. Felix Magath ließ wissen, von der Winterreise der Nationalmannschaft nach Südostasien halte er rein gar nichts. Es ist aber auch so, dass die Bundesliga das Scheitern bei der WM 2006 als Image-Totalschaden fürchtet. Es wird auf eine Notgemeinschaft hinauslaufen.

Früher hieß es, Klinsmann laufe als das gute Gewissen der Nationalmannschaft vorneweg auf den Platz. Wer soll das künftig sein? Kann er, der zum Wohlfühlen seine Kumpel aus Geislingen um sich versammelte und mit ausgeprägtem Harmoniebedürfnis die Nationalmannschaft zu seiner zweiten Familie erklärte, ein Wir-Gefühl und ein Klima erzeugen, in dem Erfolg gedeiht? In dem keiner den anderen Flipper ruft, wenn dem der Ball vom Fuß springt, wie einst Klinsmann widerfahren. Das Abenteuer WM soll nicht so fürchterlich enden wie bei der WM 1998, als nach der 0:3-Pleite gegen Kroatien in Lyon die schwarzrotgoldene Fußballfamilie ihr Scheitern beweinte, mittendrin tröstend Helmut Kohl.

Es eilt. In zwei Jahren ist die Weltmeisterschaft schon vorbei.

Der Autor war Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und hat Jürgen Klinsmann über viele Jahre beobachtet.

Hans Eiberle[München]

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