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Sport: Die Vergangenheit vollenden

Viktoria spielt noch mal um den ersten Fußballtitel

Berlin – Der Kiebitz ist nicht nur eine vom Aussterben bedrohte Vogelart, er ist auch ein Begriff für den vielleicht treuesten Fußballfan. Zurzeit steht leider zu befürchten, dass die Namensvetter das gleiche Schicksal treffen wird. „Die Kiebitze sterben uns weg“, sagt Jürgen Schmidt, Geschäftsführer des Verbandsligisten BFC Viktoria Berlin. „Es kommen kaum Zuschauer zu unseren Spielen.“ Vor 100 Jahren, zur Glanzzeit des 1889 gegründeten Vereins, war das noch anders – und so soll es wieder werden.

Am heutigen Samstag wird die Entscheidung um die erste deutsche Meisterschaft zwischen Viktoria und dem 1. Hanauer FC neu aufgelegt. Zunächst findet das Hinspiel in Hessen statt. Eine Woche später empfangen die Berliner auf dem Friedrich-Ebert-Sportplatz in Tempelhof die Hanauer zum Rückspiel. Für Fußballhistoriker kein Novum: 1894 holte Viktoria den Titel – 1908 und 1911 folgten zwei weitere. Allein, das vor 113 Jahren angesetzte Finalspiel des BFC Viktoria gegen Hanau hat niemals stattgefunden; und diesen letzten Makel, der dem Erfolg anhaftet, wollen die Berliner nun tilgen.

Warum aber konnte das Spiel nicht ausgetragen werden? Dazu heißt es: Der heutige Bezirksligist aus Hanau konnte sich die Fahrt nach Berlin nicht leisten. Will man indes einer Legende Glauben schenken, so hatte der Gast eher Angst vor einer Blamage. Denn eine mit fünf Viktoria-Spielern besetzte Stadtauswahl hatte die Hessen vor dem Endspiel 15:0 besiegt. Dieser Teil der Legende stammt allerdings aus Berlin, nicht aus Hanau.

Die Veranstaltung ist mehr als nur eine Fußnote der Fußball-Geschichte. Viktoria lebt auch nicht in der Vergangenheit, dafür sind die gegenwärtigen Sorgen des Klubs zu groß. „Jeder nur halbwegs talentierte Spieler verlässt uns schon in der Jugend“, klagt Vereinspräsident Sven Leistikow. Gegen die Platzhirsche im Berliner Fußball hätten sie keine Chance. Die Finalspiele gegen Hanau sollen helfen, die abwanderungswilligen Jugendspieler im Verein zu halten. Darüber hinaus hofft Viktoria, insgesamt attraktiver zu werden – natürlich auch für Sponsoren. Zwar drücken den Verein keine Schulden. Der Bau des ersehnten Klubhauses kann aber nicht aus eigener Kraft gestemmt werden. „Da wir kein Geld haben, können wir auch keines ausgeben“, sagt Leistikow.

Dass die Geschichte zwischen Viktoria und Hanau nicht zum allgemeinen Fußballwissen zählt, liegt wohl daran, dass sich der deutsche Fußball 1894 noch in mehreren Regionalverbänden organisiert hatte. Das Gros der heutigen Aufzeichnungen beginnt erst mit der Gründung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im Jahr 1900. Diese Wissenslücke wollen Viktoria und Hanau nun schließen. Die Neuauflage des Endspiels steht unter Schirmherrschaft von DFB-Präsident Theo Zwanziger und Berlins Innensenator Ehrhart Körting. „Es ist eine echte Meisterschaft“, sagt Leistikow. Im Erfolgsfall, so der Plan, könnte das tragische Kiebitzsterben ein Ende haben – zumindest in Tempelhof.

Paul Linke

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