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Tour de France: Fahrt durchs Dunkle

Der Mythos der Tour de France ist zerstört, die Helden sind entzaubert. Wie soll es weitergehen?

196 Verbrecher schwingen sich in den Sattel, um ein paar Tausend Kilometer durch Frankreich zu radeln. Sie werden begleitet von einem Tross aus Medizinern und Helfern. Und 124 Bewachern. Nein, es sind keine Dopingkontrolleure. Es handelt sich um richtige Gefängnisbewacher. Sie sollen aufpassen, dass keiner abhaut und sich alle auf die Ziele der Veranstaltung konzentrieren können: Teamarbeit zu organisieren, das Selbstvertrauen zu stärken und vor allem: den Glauben an den Lohn harter Arbeit zu erlernen. Ausreißen ist natürlich verboten, das Feld darf nicht schneller fahren als der Langsamste. Die Tour soll vermitteln, dass seine Ziele erreichen und sein Leben ändern kann, wer es nur will. Mit einfachen Mitteln.

Dies ist kein ausgedachtes Szenario dafür, wie die Tour de France demnächst mit zu Haftstrafen verurteilten Doping-Delinquenten daherkommen wird. Es ist tatsächlich die „Tour de France Penitentiaire“. Diese Gefängnis-Tour ist vor drei Wochen in Lille gestartet, eine echte Resozialisierungsmaßnahme mit echten Verbrechern.

Für viele Zuschauer ist der Unterschied auf den ersten Blick gar nicht so groß, wenn am kommenden Samstag in Monaco die Tour de France 2009 startet, schließlich sind Betrüger ja auch Verbrecher. Und zwar im Sport besonders schlimme. Weil der Sport eine Modellwelt ist, in der sich alles, wie der Philosoph Peter Sloterdijk sagt, was man aus der Durchschnittswelt kennt, in einer höheren Verdichtung darstellt. Es gelten dieselben Werte wie anderswo, aber eben in Reindarstellung. In der Grauzone des normalen Lebens ist auch der Betrug irgendwie normal, in der Modellwelt muss er äußerst verpönt sein. Sonst verliert der Sportler seine wichtigste Funktion: die als Held.

Aber diese Tour de France 2009, hat die überhaupt noch Helden, am besten Deutsche? Schon einmal etwas von Heinrich Haussler gehört? Der deutsche Radprofi hat im Mai die Weltrangliste angeführt, den hätte vor zehn Jahren nahezu jeder gekannt, er wäre ein Star beim Team Telekom gewesen. So wie auch Tony Martin. Der ist gerade Zweiter beim Vorbereitungsrennen Tour de Suisse geworden, er wird vielleicht mal ein richtig Guter für die großen Rundfahrten.

Die Tour produziert aber keine Helden mehr, weil die erste Frage lautet, wenn ein Etappensieger über die Ziellinie rast: Hat der nicht, war der nicht auch mal, ist der vielleicht unbelastet? Moment, der Reporter guckt in seine Liste.

Ohne Helden leidet auch der Mythos der Tour. Jahrzehnte lang war der Mythos unabhängig von einzelnen Protagonisten und über so profane Dinge wie Doping erhaben, ganz ohne mythische Menschen geht es aber auch nicht. Als diese ein paar Jahre völlig ausblieben, ließ sich die Tour zuletzt dazu herab, aktiv und laut formuliert gegen Doping zu kämpfen und setzte so als Teilnehmer in einem Kampf der normalen Durchschnittswelt ihre Erhabenheit und damit sogar ihre Existenz aufs Spiel.

Zumindest dann, wenn die Modellwelt eine Modellwelt bleiben soll. Aber das ist sie ohnehin schon nicht mehr. Und das liegt nicht nur an den vielen Untersuchungen gegen die Radprofis und an ihren Gerichtsverhandlungen. Ex-Weltmeister Tom Boonen hat wieder Kokain genommen und ist nicht erwünscht – am Dienstag wird ein Gericht entscheiden, ob er mitfahren darf. Der aktuelle Weltranglistenerste Alejandro Valverde ist in Italien, wo auch eine Etappe der Tour langführt, wegen Dopings gesperrt, trotzdem wollte er sich einklagen, ehe sein Team doch verzichtete. Andreas Klöden ist dabei, obwohl er im Untersuchungsbericht über die Doping-Machenschaften der Uni Freiburg schwer belastet wird. Zu den Favoriten zählt der äußerst verdächtige Sieger des Giro d’Italia, Dennis Mentschow. Und so weiter.

Die Modellwelt ist auch deshalb keine Modellwelt mehr wie einst, weil es seit eineinhalb Jahren den Blutpass gibt. Mit den hier erhobenen Werten braucht man keine Beweise mehr, um Verdächtige zu sanktionieren, die ersten fünf (eher unbekannten) Fahrer wurden jetzt benannt. Die Entscheidung darüber, ob dieses Ausschalten der Beweislast rechtens ist, werden Gerichte zu fällen haben. Hier gibt es eine Schnittmenge des einstmals Erhabenen mit der Durchschnittswelt, wo der Richter darüber befindet, ob der Papa einfach so einen Gentest mit einem Haar seiner wahrscheinlichen Tochter machen darf. Die Begriffe Körper und Körperlichkeit erfahren gerade nicht nur wegen der möglichen Schönheits- und medizinischen Operationen eine große Wandlung, da ist so ein Blutpass nichts, an das sich das Publikum umständlich gewöhnen müsste, er erscheint alltäglich wie ein Organspendeausweis. Mit einem Blutpass ist man kein Held.

Es sei denn, man heißt Lance Armstrong. Bei dieser Tour wird es nur um ihn gehen, denn Armstrong weist den futuristischen Weg, wie aus der einstigen Modellwelt und der normalen Durchschnittswelt etwas Neues, Drittes entstehen könnte. Denn man kann ja nicht nur viel operieren, sondern sich auch vieles einwerfen. Armstrong hat einst den Krebs besiegt, mit vielen Medikamenten. Dann hat er sieben Mal die Tour gewonnen, wie genau, weiß nur er allein. Aber jeder meint, es zu wissen, und deshalb ist es so faszinierend, dass die Figur Armstrong unverwundbar erscheint (und als er einmal im Nachhinein beim Betrügen erwischt wurde, hatte das keinerlei Konsequenzen). So wird die erste Frage vielleicht doch nicht dem Etappensieger gelten, sondern lauten: Was hat Armstrong gemacht, hat er die graue Masse der Nicht-Helden abgehängt? Und wie geht das?

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