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800-Meter-Läuferin Marija Sawinowa ist nach Gold bei WM und Olympia auch bei der WM in Moskau in der Favoritenrolle.

© dpa

Dopingkampf in Russland: Kontrolle ist gut

Im Kampf gegen das Doping ist in der russischen Leichtathletik viel passiert, 44 gedopte Athleten wurden bereits überführt. Trotzdem bleiben vor der Weltmeisterschaft in Moskau Zweifel.

Entlang der Hauptverkehrsstraßen in der russischen Hauptstadt erfährt der Moskowiter durch tausende von Werbetafeln, was er sich möglichst leisten sollte: Schokoriegel, Cola, deutsche Autos, Luxusreisen, Immobilien in repräsentativer Lage, Karten für den Mega-Fight Klitschko gegen Powetkin und, ja doch, auch einen Besuch der Leichtathletik-Weltmeisterschaften ab diesem Samstag. Auf vereinzelten Plakaten rennt Usain Bolt voraus oder zeigt seine Pfeil- und Bogenpose. Schon vor dem ersten Startschuss ist der blitzschnelle Jamaikaner das Gesicht der 14. WM.

Dabei hätte das Gastgeberland durchaus auch eigene Gesichter. 800-Meter-Läuferin Marija Sawinowa beispielsweise, die nach Gold bei WM und Olympia ebenso erneut die Favoritenrolle inne hat wie Hochspringerin Anna Tschitscherowa, deren männlicher Kollege Iwan Uchow oder, an allererster Stelle, Jelena Issinbajewa. Immerhin ist die nicht mehr unbesiegbare Stabhochsprung-Weltrekordlerin auf dem offiziellen WM-Logo in ihren Konturen zu erkennen. Aber die russische Leichtathletik teilt in diesen Jahren das Schicksal der Leichtathletik vieler anderer Nationen: Fußball und andere Profisportarten haben ihr klar den Rang abgelaufen. Vor der größten Sportveranstaltung Russlands seit den Olympischen Spielen 1980 in Moskau war der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) lange besorgt, dass das auf 85.000 Zuschauer zurückgebaute Luschniki-Stadion halb leer bleiben könnte. Inzwischen sind aber einige Abendveranstaltungen ausverkauft, Bolt sei Dank.

Nicht zuletzt weil der Westen bei den Spielen 1980 fehlte, räumten die damals für die Sowjetunion startenden Sportler mächtig ab, auch in der Leichtathletik. 15 Olympiasieger stellte die Sowjetunion in der Kernsportart. Bei der ersten WM auf russischem Boden wären die Gastgeber schon zufrieden, wenn sie sechsmal Gold holen würden, wie Verbandspräsident Valentin Balachnitschew erklärte. In sechs Disziplinen führen russische Athleten auch die Jahresweltrangliste an.

Vor der riesigen Betonschüssel aus dem Jahr 1956, die ihren morbiden Charme nur noch bis zum Ende dieser Titelkämpfe verströmen darf und die dann einem Fußballtempel für eine Milliarde Euro Baukosten für die WM 2018 weichen muss, beherrscht wie vom ersten Tag an eine haushohe Leninstatue die Szenerie. Dass die russischen Läufer, Springer und Werfer zwar immer noch die meisten Medaillen einsammeln hinter dem ehemaligen Klassenfeind USA, aber nicht mehr ganz so häufig siegen wie zu Zeiten des Kalten Krieges, hängt auch damit zusammen, dass das größte Land der Erde das geflügelte Wort des Revolutionsführers auch im Sport praktiziert: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Nicht wie früher zur Vorbeugung von positiven Proben, sondern zur Abschreckung. Russland hat schließlich eine ebenso lange Leichtathletik- wie Doping-Tradition. Auf Druck der Sportwelt wurde vor fünf Jahren die nationale Anti-Dopingagentur Rusada gegründet. 2011 verabschiedete die Duma zudem ein Anti-Doping-Gesetz, das auch den Handel mit verbotenen Substanzen unter Strafe stellt.

44 russische Leichtathleten wurden bereits wegen Dopings aus dem Verkehr gezogen

Der zögerlich und spät aufgenommene Kampf gegen den Sportbetrug trägt inzwischen Früchte, auch wenn Kritiker meinen, dass die ganz spezielle Ernte noch viel reicher ausfallen müsste. Dass sich die Titelverteidigerinnen Tatjana Lysenko (Hammerwerfen) und Maria Abakumowa (Speer) auch in dieser Saison wieder rarmachten, erfüllt die deutschen Konkurrentinnen Betty Heidler und Christina Obergföll mit Argwohn. Aber immerhin sind derzeit 44 russische Leichtathleten wegen Dopings aus dem Verkehr gezogen, teilweise aufgeflogen auch bei Tests durch IAAF-Kontrollen – meist Sportler aus der zweiten oder dritten Reihe, es finden sich aber auch die Namen von Diskuswerferin Daria Pischtschalnikowa, die ihre olympische Silbermedaille von London 2012 zurückgeben musste, und jener von 800-Meter-Europameisterin Jelena Arschakowa auf der schwarzen Liste.

Helmut Digel, das deutsche Mitglied im Council der IAAF, wertet die hohe Zahl positiver Fälle im WM-Gastgeberland durchaus positiv. „Es ist nicht fair, Länder an den Pranger zu stellen, bei denen viele Fälle aufgedeckt werden“, sagt Digel. „Es spricht für die Wirksamkeit der Kontrollen. Die russischen Athleten sind die vielleicht am meisten kontrollierten der Welt.“ Das stimmt fast. 14,2 Prozent der rund 4000 Tests, die die IAAF im vergangenen Jahr veranlasste, entfielen auf Russland. Nur kenianische Athleten wurden noch öfter kontrolliert (14,7 Prozent).

Kein Ruhmesblatt ist für den WM-Gastgeber, dass sich in der aktuellen Weltrekordliste noch acht Russen an der Spitze ihrer jeweiligen Sparte befinden. Die Hälfte dieser Bestmarken stammt aus der Hoch-Zeit des Anabolika-Dopings, darunter die 7,52 Meter von Weitspringerin Galina Tschistjakowa von 1988 und die noch ein Jahr ältere Kugelstoß-Weltbestleistung von Natalja Lissowskaja – utopische 22,36 Meter.

Luschniki, wie das große Sportareal am Ufer der Moskwa heißt, bedeutet übrigens „überschwemmte Wiese“. Ob diese am Samstag beginnende Weltmeisterschaft wie weiland Olympia als großer Dopingsumpf in Erinnerung bleibt, liegt aber wohl kaum nur an den russischen Athleten. Mit den Olympischen Spielen 1988 in Seoul etwa verbinden viele vor allem den Dopingfall des 100-Meter-Siegers Ben Johnson.

Reinhard Sogl

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