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Drachenfliegen in der DDR: Die Grenzen des Himmels

Kein Sport passte so wenig zum DDR-System wie das Drachenfliegen. Doch trotz des Verbots gab es eine ostdeutsche Szene von rund 100 Drachen- und Gleitschirmfliegern. Eine Spurensuche.

Es ist früh morgens, 9. November 1986, Berlin-Mitte. Auf dem Dach eines Hochhauses mit 25 Stockwerken in der Leipziger Straße haben zwei junge Männer die Nacht verbracht. Unbemerkt von den Bewohnern. Sie warten. Sie rauchen Kette. Volkmar Kienöl und sein Freund Klaus Kuschmierz kauern neben zwei selbst konstruierten Flugdrachen. Ihr Landeplatz ist nur 200 Meter entfernt. Aber er liegt in einer anderen Welt: Sie wollen mit ihren Drachen direkt vor dem Axel-Springer-Hochhaus zu Boden segeln. Nach stundenlangem Zögern nimmt Kuschmierz seinen Drachen. Läuft an, erreicht die Dachkante – und bleibt mit einem Fuß hängen. Er stürzt, der Drachen trudelt. Er hat Glück, er kann ihn noch stabilisieren und hat Pech: Kuschmierz landet im Hof der Theodor-Winter-Oberschule, direkt neben dem Hochhaus. Kienöl eilt zu seinem Freund, die beiden Mauersegler fliehen, werden aber vier Tage später in Tschechien festgenommen. Die verpatzte Flucht endet für die Freunde in der DDR im Gefängnis. Wochenlang werden sie von der Stasi verhört.

Eine Dachkante, aber vor allem ein simpler technischer Fehler stand der Flucht in den Westen im Wege. Der Winkel für den Flug und die äußeren Bedingungen hätten gepasst, nur das mit dem Anlauf hätte Kuschmierz nicht machen dürfen. „Das war ein Klippensprung“, sagt Claus Gerhard, erfahrener Drachenflieger. Und da erfolge der Start direkt an der Kante, ohne Anlauf. Aber Kienöl und Kuschmierz hätten das eben nicht gewusst. Woher auch? Drachen- und Gleitschirmfliegen war in der DDR nicht erlaubt. Fliegen! Wo doch niemand fliehen sollte? Es gab keinen Sport, der so wenig zum System passte. „Weil er sich so wenig kontrollieren ließ“, sagt Volkmar Kienöl.

Hauptmotivation der Oberen, diesen Sport zu verbieten, war natürlich die Angst vor fluchtwilligen Bürgern. Trotzdem etablierte sich in der DDR in den siebziger Jahren eine kleine Szene an Drachenfliegern, Claus Gerhard hat die Geschichte vieler dieser Menschen in seinem Buch „Der begrenzte Himmel“ beschrieben. Rund 100 Drachen- und Gleitschirmflieger gab es in der DDR, in Berührung mit der Sportart seien aber wohl ein paar hundert DDR-Bürger gekommen, glaubt Gerhard. Die wenigsten von ihnen betrachteten ihren Sport als Vorbereitung für eine Flucht. Das machte es ihnen aber nicht einfacher. Denn wer mit dem Flugsport in Berührung kam, konnte sich intensiver Überwachung sicher sein.

Dabei fing alles ganz harmlos an. Es war 1973, als der US-Amerikaner Mike Harker mit seinem Flugdrachen von der Zugspitze herabsegelte und im selben Jahr Roger Moore als James Bond in „Live and let die“ mit dem Drachen durch die Lüfte glitt. Der Westen hatte einen neuen Trendsport – für die, die mutig genug waren und es sich leisten konnten.

Ausläufer der Welle kamen auch im Osten Europas an. In Tschechien, Ungarn und Polen versuchten sich die ersten Drachenflieger. In der DDR waren es zunächst nur wenige. Peter Eckstein aus Ballenstedt, einer Kleinstadt am Harz, ist 1973 einer von ihnen. Der Segelfluglehrer, Anfang 30, ist begeistert von Harker und fährt mit zwei Freunden zur Drachenflugmeisterschaft nach Zakopane. „Wir haben die Drachen alle ausgemessen, sind nach Hause gefahren und haben uns selbst welche gebaut“, erzählt Eckstein. „Das war abenteuerlich: Wir haben Tischtücher aus Plaste verwendet.“

Eckstein übte mit seinem selbst gebastelten Drachen fortan im Harz. Fluchtgedanken hatte er nicht. Obwohl ihn die „Interflug“ als Hubschrauberpilot entlassen und die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) als Segelfluglehrer gesperrt hatte – offiziell ohne Grund, inoffiziell wegen zu wenig Begeisterung für das politische System. Eckstein stürzt sich nach dem Flugverbot in sein neues Hobby, bis 1978 scheint sich niemand daran zu stören. Der gelernte Pilot wird immer geschickter mit dem selbst gebastelten Gleiter und tritt 1978 erstmals zu einem Wettkampf an, im Nachbarland Ungarn. Eckstein denkt sich nichts dabei.

Ausschlaggebend für das Verbot war eine Flucht im Heißluftballon

„Als ich in Ungarn ankam, sah ich die DDR-Fahne an meinem Hotel hängen. Ich dachte: Toll, da nehmen noch andere aus der DDR teil.“ Aber Eckstein war der einzige Starter aus der DDR bei der internationalen Drachenflugmeisterschaft. Viele der 30 Teilnehmer kamen aus Westeuropa. „Am Ende schaffte ich es auf den fünften Platz.“ Ein großer Erfolg – vor allem angesichts der schlechten Voraussetzungen im Vergleich zur Konkurrenz.

Die ungarischen Ausrichter waren beeindruckt von den Leistungen des Neulings: Sie schickten ein Glückwunschschreiben an die GST in die DDR, wie Claus Gerhard in seinem Buch schreibt. Wenig später bekommt Peter Eckstein Besuch in seinem Heimatort Ballenstedt. Die Herren von der Stasi und Polizei sind nicht zum Gratulieren gekommen. Eckstein erinnert sich: „Die haben mich stundenlang in die Mangel genommen: Wie ich es mir erlauben konnte, die DDR in Ungarn zu vertreten, schrien sie mich an. Es war ätzend.“ Und es war der Auftakt der Schikanen, mit der die Drachenflieger fortan in der DDR leben mussten. Sie mündeten 1980 in das Verbot der Sportart, die in fast allen sozialistischen Staaten weiterhin erlaubt war.

Das Verbot hatten sich die Drachenflieger – motorisiert war es ohnehin nie erlaubt – allerdings nicht allein verdient. Ausschlaggebend war die Flucht zweier Familien im Heißluftballon im September 1979. Der Flug in den Westen wurde in westdeutschen Medien ausgiebig ausgeschlachtet und schließlich 1981 als Hollywood-Kitschfilm verklappt. Allen Flugbegeisterten in der DDR wurde fortan das Ausüben ihrer Sportarten erschwert. In der Zeit nach „Mit dem Wind nach Westen“ sei es in den Flugschulen der GST erst recht zugegangen wie auf dem Kasernenhof, hat Gerhard recherchiert. Mit Morgenappell in Reih und Glied. „Im Wesentlichen haben wir die Übungen auf dem Boden gemacht“, sagt Claus Gerhard. „Und wenn jemand in die Luft durfte, dann hatte er mindestens einen Beobachter.“

Nach 1980 wurde alles dafür getan, den Flugdrang der Bürger einzudämmen. Volkmar Kienöl sagt: „Nach der Ballonflucht war das Material, eine Art Anorakstoff, der keine Luft durchlässt, nicht mehr in großen Stücken zu bekommen.“ Und diesen Stoff brauchten die Drachenbastler, sagt Kienöl.

Aber wer wie die DDR-Bürger an Mangel gewohnt war, der konnte improvisieren. Wie etwa Heinz Gröschner, Busfahrer aus Thüringen. Er baute wie Eckstein schon seit den frühen Siebzigern Flugdrachen. Zunächst bestanden sie aus mit Plastikfolie bespannten Holzlatten. Später bespannte er Aluminiumrohre mit Leinenplanen und schließlich baute er seine Drachenholme aus dünnen Haltestangen alter Omnibusse. Fast alle seine Modelle wurden ihm 1980 von der Stasi abgenommen, nur einen Drachen konnte Gröschner vor der Staatsmacht verstecken.

Trotz der Aufräumarbeiten der Stasi wurde weitergebastelt und vor allem aus Flicken zusammengeschustert. Im Verborgenen. Die Drachenfliegerszene bestand aus kleinen Cliquen wie der von Eckstein in Sachsen-Anhalt oder von Gröschner in Thüringen. Viele wussten nichts voneinander, an Flucht dachten die meisten nicht. Außer dem Versuch von Berlin 1986 ist kaum ein anderer mit einem Drachen bekannt – geglückt ist keiner in der DDR-Geschichte.

Peter Eckstein wurde einmal ein Republikfluchtversuch angehängt. Zwei Menschen, die er nicht kannte, „wollten bei Aschersleben von einem Feldweg in den Westen fliegen. Als es nicht klappte, haben sie ihren selbst gebastelten Drachen um drei Uhr morgens einfach liegen lassen und sind nach Polen abgehauen. Wenig später stand die Polizei vor meiner Tür.“

Aufgegeben hat Peter Eckstein seinen Sport trotz der Drangsalierungen nie, in den Achtzigern wich er mit seinen Freunden zum Fliegen nach Tschechien aus, ins Böhmische Mittelgebirge. Über die Grenze bekamen sie ihre Drachen auch auseinandergebaut nicht mehr. Sie bastelten sich vor Ort ihre Flieger zusammen, an einen Start bei Wettbewerben war allerdings nicht mehr zu denken. „Ich wurde ständig fotografiert, auch in Tschechien“, sagt er. Die Stasi sei Stammgast in seinem Haus gewesen. Das ändert sich erst 1989, im August erlaubt die DDR das Drachenfliegen. Und als drei Monate später die Mauer fällt, springt Eckstein „hundert Mal in die Luft“, wie er heute erzählt. „Für mich wurde in den 25 Jahren danach alles besser.“

Am 9. November 1989, exakt drei Jahre nach ihrem Fluchtversuch in der Leipziger Straße, sind Klaus Kuschmierz und Manfred Kienöl schon seit zwei Jahren im Westen. Kuschmierz wurde freigekauft, Kienöl kam nach einer Amnestie in den Westen. Kienöl, heute Mitarbeiter einer großen Nachrichtenagentur, wurde erst nach der Flucht zu einem begeisterten Drachenflieger. 1983 hatte er auf der in der DDR publizierten sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ einen Drachen gesehen. Das habe ihn zum Fluchtversuch inspiriert. Eine seltsame Geschichte, in der Sowjetunion war Drachenfliegen erlaubt, in der DDR nicht.

Heute wisse er, wie „wir das damals erfolgreicher hätten gestalten können“, sagt Volkmar Kienöl und lacht. So eine Distanz wie die 200 Meter von der Leipziger Straße bis zum Axel-Springer-Hochhaus wären für ihn heute bei entsprechender Bedingungen und mit dem modernen Material wohl eher eine Aufwärmübung. Zwei, drei Stunden gleitet er bei guten Bedingungen schon mal durch die Luft – allerdings nicht nach einem Klippensprung. Volkmar Kienöl sagt: „Wir haben damals zu wenig nachgedacht, daran waren wohl der Druck und Adrenalinschub schuld.“

Das Buch „Der begrenzte Himmel“ von Claus Gerhard ist 2011 im Metropol-Verlag erschienen.

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