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Ein einmaliger Fall: Die Bombe in der Dritten Liga

Beim Spiel zwischen Osnabrück und Münster werden im Herbst 2011 bei einer Explosion 33 Menschen verletzt. Ein Fan muss fünf Jahre in Haft, die Richter gehen von einem Racheakt aus.

Nach dem Schock der Explosion blickt Volker W. erst einmal an seinem Körper herab. Sind die Füße noch dran? Die Beine? Dann nimmt der Kriminalbeamte das Brummen in seinem Schädel wahr und hält sich die Ohren zu, obwohl er in diesem Augenblick den Tumult um ihn herum ohnehin nicht mehr hören kann. Er blickt in die weit aufgerissen Augen seiner Kollegen, die mit ihm im alten Spielertunnel des Osnabrücker Stadions stehen. Einige haben Wunden an Beinen, Gesicht und Bauch und müssen gestützt werden, auch der Kreislauf des 56-Jährigen droht zusammenzubrechen. Erst Minuten später, das Drittliga-Derby zwischen dem VfL Osnabrück und Preußen Münster ist mittlerweile angepfiffen, wird Volker W. klar, was an diesem 10. September 2011 passiert ist. Ein Fan aus Münster hat einen illegalen Böller in den Tunnel geworfen, eine Art Bombe, 33 Menschen werden verletzt, darunter fünf Kinder.

Sechs Monate später ist der Täter nicht nur gefasst, sondern auch verurteilt. Wegen „der Herbeiführung einer Sprengstoff-Explosion und gefährlicher Körperverletzung in 33 Fällen“ haben die Richter der 10.  Großen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück am vergangenen Freitag eine fünfjährige Haftstrafe gegen Juri C. verhängt, einen 24 Jahre alten Italiener. Der gebürtige Neapolitaner ist 2010 nach Münster gekommen, um im Weinhandel seines Onkels zu arbeiten, inzwischen schlägt er sich mit Aushilfsjobs durch. Und er hat sich der Ultra-Gruppierung „Curva Monasteria“ angeschlossen. Er gesteht vor Gericht, den Sprengsatz spontan geworfen zu haben – das Gericht geht aber von einer vorsätzlichen, lange geplanten Tat aus. Das Urteil soll abschreckend wirken, auch deshalb geht die Strafe über die von der Staatsanwaltschaft geforderten viereinhalb Jahre Haft hinaus.

Die Tat, die Zahl der Verletzten, das drastische Strafmaß – der Fall Juri C. ist einzigartig im deutschen Fußball. „Es ist mir unbegreiflich. So etwas hat es noch nie gegeben“, sagt Volker W., der seinen kompletten Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der Kriminalbeamte möchte die ganze Angelegenheit endlich hinter sich lassen, er ist froh, dass der Prozess vorbei ist. Vier Wochen lang war er dienstunfähig, mittlerweile kann er wieder arbeiten. Den schweren Hörschaden auf dem linken Ohr und den Tinnitus wird er aber nicht mehr loswerden. Einer seiner Kollegen erlitt insgesamt 53 Verletzungen und musste mehrmals operiert werden.

Ein Polizist erleidet 53 Verletzungen und muss mehrmals operiert werden

Auch sieben Verhandlungstage vor Gericht haben nicht zweifelsfrei klären können, was an diesem Tag im Stadion geschehen ist. Juri C. sagt aus, er habe in den Stunden vor Spielbeginn zwei Flaschen Wodka getrunken, Speed konsumiert und mehrere Joints geraucht. Ein Bekannter habe ihn dann gebeten, den Sprengsatz – etwa so groß wie eine Cola-Dose – in seiner Unterhose ins Stadion zu schmuggeln. „Juri hat gesagt, dass er in keine Aktion eingeweiht war“, erklärt sein Verteidiger Thomas Klein. Als die Mannschaften vor dem Anpfiff auf den Rasen laufen, zündet der 24-Jährige den Sprengkörper, der in Deutschland legal nicht zu bekommen ist. Juri C. wirft den Böller mit der linken Hand rund 20 Meter weit auf das Dach des ehemaligen Spielertunnels, durch einen Spalt im Dach fällt die Bombe zwischen die im Tunnel stehenden Polizisten, Sicherheitsleute und Sanitäter. „Er hat ausgesagt, er habe den Böller bewusst auf eine freie Fläche geworfen – und auch getroffen“, sagt Rechtsanwalt Klein. Das Gericht glaubt dieser Darstellung nicht und geht davon aus, dass gezielt Menschen verletzt werden sollten. „Es spricht einiges dafür, dass da was von langer Hand geplant war. Es gab Gerüchte“, gibt auch Anwalt Klein zu. „Im Urteil ist von einer Racheaktion die Rede. Das kann sein.“ Aber wer wollte sich an wem rächen? Und warum?

Wenn man sich im Umfeld von Preußen Münster umhört, ist schnell vom Spiel in Kaiserslautern am 28. Mai 2011 die Rede. Auf der Zugfahrt geht die Zaunfahne der „Curva Monasteria“ verloren. Wenig später löst sich die große Fangruppe auf, wie es unter Ultras nach dem Verlust der Fahne – des Allerheiligsten – durchaus üblich ist. Ein Mainzer Fan aber soll die Zaunfahne gefunden haben, den FSV Mainz 05 und den VfL Osnabrück verbindet eine Fanfreundschaft, angeblich gelangen VfL-Anhänger in ihren Besitz. Bei Preußen Münster befürchtet man vor dem Spiel in Osnabrück, die gegnerischen Fans könnten die Fahne – im Ganzen oder in Fetzen – in ihrem Block präsentieren.

Dazu kommt es nicht. Dafür zeigen Polizeivideos, wie Juri C. im Gästeblock den Böller zündet, den ein 17-Jähriger zuvor über das Internet besorgt hat. Umstehende Fans versuchen mit in die Höhe gestreckten schwarzen T-Shirts, den Blick auf den Werfer zu verdecken. Eine Woche nach dem Spiel, das kurz nach der Explosion angepfiffen wird und mit einem 1:0-Sieg für Osnabrück endet, wird Juri C. festgenommen. Die Polizei hat das Videomaterial ausgewertet und sein Bild in einem sozialen Netzwerk im Internet entdeckt. Auf seinem Mobiltelefon entdecken die Ermittler eine SMS-Nachricht vom Spieltag: „Bitte OSNA töten. Wir wollen gewinnen.“

Verteidiger Thomas Klein plädiert auf verminderte Schuldfähigkeit wegen des Alkohol- und Drogenkonsums seines Mandanten. Zudem lädt er den Fanforscher Gunther Pilz als Sachverständigen, der aussagt, im italienischen Fußball seien Böller weitaus gebräuchlicher als in deutschen Stadien. Das Gericht lässt den Böllerwurf im Stadion nachstellen, einem Polizisten gelingt es bei etwa der Hälfte seiner Versuche, den Spielertunnel zu treffen. Juri C. sagt aus, er sei schon als Kind ein hervorragender Werfer gewesen, deswegen habe er sein Ziel problemlos getroffen, auch aus der Menge und im Vollrausch. Auch die Sprengwirkung des Böllers vom Typ „Delova Rana 75“, dessen umherfliegende harte Papp-Ummantelung zu den schwersten Verletzungen geführt hat, wird untersucht: Die Lautstärke des Knalls wird mit 150 Dezibel ermittelt, in einem Experiment wird ein identischer Böller neben einem Kohlkopf gezündet. „Da war hinterher nichts mehr von übrig, der wurde atomisiert“, sagt die Anwältin, die Volker W. als Nebenkläger vertritt. „Man hätte auch nach der Genfer Konvention entscheiden können, das ist Kriegsgerät.“

Zum Prozess kommen Freunde des Täters, auf ihren T-Shirts steht "Juri gib nicht auf"

Juri C. entschuldigt sich zum Prozessauftakt in gebrochenem Deutsch und schreibt einen Brief an die Verletzten – einen aus einem Notizbuch gerissenen DIN-A5-Zettel, auf Italienisch, mit Kuli bekritzelt. Im Gerichtssaal verfolgen täglich fünf bis zehn Fans aus Münster den Prozess, einige tragen T-Shirts: „Juri non mollare“ – Juri gibt nicht auf. Auf manche Beobachter machen die Männer den Eindruck, den Angeklagten moralisch unterstützen zu wollen. Andere Prozessteilnehmer glauben: Hier soll Druck ausgeübt werden, damit Juri C. nicht auspackt. Am Ende des Prozesses steht eine unverhältnismäßig drastische Strafe, wie Verteidiger Klein findet. „Das Gericht hat an mehreren Stellen im Zweifelsfall gegen den Angeklagten Feststellungen getroffen“, sagt Klein. „Das Gericht wollte mit dem Urteil in die Schlagzeilen. Es wollte ein Zeichen setzen, eine abschreckende Wirkung für die Allgemeinheit.“ Zusätzlich zu seiner Haftstrafe kommen auf Juri C. Schadensersatzforderungen für die Ausfälle der Polizeibeamten in Höhe von 200 000 Euro zu, außerdem wird er zu rund 50 000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. „Keiner der Geschädigten geht davon aus, dass er auch nur einen Cent davon sieht“, sagt Volker W., „der Junge hat in dieser Sekunde sein ganzes Leben versaut.“

Thomas Klein will in Revision gehen und vor den Bundesgerichtshof ziehen.

Juri C. sitzt weiter in Untersuchungshaft, nach zwei Jahren Gefängnis könnte er nach Italien abgeschoben werden.

Volker W. macht bald eine dreiwöchige Kur. Hoffnung, dass er wieder normal hören kann und das Pfeifen in seinen Ohren verstummt, hat er nicht mehr.

Das Rückspiel zwischen dem VfL Osnabrück und Preußen Münster findet am kommenden Dienstag statt.

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