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Sport: Ein Paradox namens Hertha

Über die taktische Herausforderung, sich im Moment vom System zu lösen

Vorigen Donnerstag wurde es in Berlin sozusagen amtlich: Das System und sein Denken ist am Ende. Es hat sich überlebt, oder besser: überspielt. Doch was tritt an seine Stelle? An die Stelle all der lieb gewonnenen Zahlenformationen (4-4-2 usw.), mit deren Äußerung und Visualisierung sich in den letzten zwei Jahrzehnten so spielend Kompetenz simulieren ließ? Huub Stevens weiß es. Und fand das Herz, sein Wissen offen auszusprechen. Wir zitieren den derzeitigen Trainer des Fußball- Bundesligisten Hertha BSC und anerkannten Cheftaktiker noch einmal im fesselnden Original: „Es gibt keine festen Systeme mehr, es gibt nur Momente.“

Dieser Satz trifft das Spiel seiner Zeit, ist also wahr. Wenn aber nicht alles täuscht, so dürfte Stevens’ prägnant formulierte Einsicht tatsächlich erst den – lang ersehnten – Beginn einer tiefgreifenden Neuorientierung der Fußballtheorie markieren. Eine Neuorientierung, die von nichts anderem als der konkreten Praxis auf dem Fußballfeld erzwungen wird. Und die sich mit Stevens’ geplantem Perspektivwechsel vom „festen System“ zum flüchtigen „Moment“ insofern als grundlegend ankündigt, als solch ein Perspektivwechsel in letzter Konsequenz das gängige Selbstverständnis der Taktik als Theorie auflösen oder zumindest verdächtigen muss.

Ließ sich ein System, und ein festes zumal, nämlich noch von außen bestimmen, steuern und analysieren, so kann sich die Wahrnehmung und besonders die taktische Nutzung eines öffnenden Moments nur von innen und damit unmittelbar aus dem Spiel heraus vollziehen. Die drohende Auflösung der Stevens’schen Theorie durch die Stevens’sche Theorie stellt im konkreten Fall allerdings nicht das eigentlich drängende Paradox von Hertha BSC dar. Natürlich wäre es naiv, sich zur Stützung der These vom fortschreitenden Überspieltwerden der festen Spielsysteme durch das Spiel auf eine konkrete Partie oder ein einzelnes Team zu berufen. Trotzdem lässt sich doch sehr präzise angeben, wo dieses heitere Phänomen bislang überhaupt noch nicht zu beobachten war: nämlich im Spiel des Berliner Fußballklubs Hertha.

Während die stolz vermittelte Fußballtheorie also andernorts, wie es ja auch sein soll, der konkreten Spielpraxis noch brav hinterherhinkt, ist es in Berlin offensichtlich genau umgekehrt. In der Hauptstadt scheint Fußball bereits radikal „vom Moment aus“ gedacht zu werden. Gespielt hingegen wird noch immer nach System – und zwar so fest und geschlossen, dass man beim Zusehen traurige Augen bekommt.

Das ist, darf man sagen, ein Rätsel. Denn sollte es in dieser wechselhaften Saison überhaupt ein mannschaftsprägendes Stilmerkmal gegeben haben, etwas, wofür Hertha stand, so war das ohne Zweifel die kontinuierliche Abwesenheit des spielerischen Moments. Fehlte dem Auftreten des Vereins doch vor allem der Charakter des überraschenden Auftretens und wieder Verschwindens, des Ineinander-Übergehens und Sich-in-sich-selbst- Veränderns.

Tatsächlich schienen die Berliner Profis – augenscheinlich trotz und nicht, wie zu vermuten war, wegen Stevens – eben jenen spielfremden und risikoscheuen Weg entlang zu marschieren, der jedem System qua System eingeschrieben bleibt. Es ist der Weg zum in sich geschlossenen System, der Weg zur Totalität.

So erklang dann auch das spärliche Betrachterlob. „Geschlossen aufgetreten“, ja, das wurde bisweilen, „frei aufgespielt“ hingegen nie. Denn selbst, oder vielmehr gerade, wenn es bei solch einem „festen System“, wie es Stevens theoretisch verabschiedet hat und seine Mannschaft dennoch wöchentlich verkörpert, einmal so richtig läuft und alle einwandfrei mitziehen, droht sich das spielerische Moment darin umso leichter zu verlieren. Gerade dann nämlich erscheint jeder Pass und jeder Laufweg vor dem Tribunal seiner inneren, eben systeminternen Folgerichtigkeit. Und jede weitere konforme Aktion wird dem System zur erneuten Bekräftigung seiner selbst, was den kollektiven Druck zum System nur erhöht. Bis der in die Totalität des Verkettungszusammenhanges eingebundene Profi dann, sei aus Furcht oder Einsicht, sich schließlich sogar den Blick für die außerhalb des vorgegebenen Systems liegenden Optionen, also das eigentliche spielerische Moment, versagt.

Woran es bei den Berlinern bisher wirklich krankte? Wer weiß das schon? Auf dem Platz sahen sie einer spielerisch erstarrten und nicht übermäßig wohlgelaunten Totalität jedenfalls täuschend ähnlich.

Offensichtlich scheint Stevens bislang der einzige in der Mannschaft zu sein, der den Mut aufbringt, den Vorrang des Systems vor dem Spiel grundsätzlich in Frage zu stellen. Wobei man sich natürlich fragen kann, welchem seiner 29 erwachsenen Spieler er das öffentliche Ergreifen eben dieser spielschöpfenden Option wohl ungestraft durchgehen ließe. Im Moment – fällt uns keiner ein.

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