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Sport: „Eine eigene Wahrheit“

Sportpsychologe Mickler über Unschuldsbehauptungen und Parallelwelten

Herr Mickler, Jan Ullrich schien bei seiner Rücktrittserklärung vor der Presse überzeugt davon, niemals gedopt zu haben. Die Indizien aber deuten auf etwas anderes hin. Wie aussagekräftig ist ein solcher Auftritt?

Das lässt sich nur schwer abschätzen. Aber eine stark vertretene Meinung muss keinesfalls bedeuten, dass diese der Wahrheit entspricht. Es gibt ja nicht nur eine Wahrheit.

Wie meinen Sie das?

Das mit der Wahrheit ist eben so eine Sache. Jeder hat seine. Jeder hat ein subjektives Bild. Gerade im Fall Ullrich gibt es natürlich unterschiedliche Perspektiven. Auf der einen Seite ist da der Held, der den Radsport in Deutschland groß gemacht hat. Auf der anderen Seite stehen die schweren Doping-Vorwürfe.

Jan Ullrich scheint sich an dem guten Bild festzuhalten. Auffällig war, dass er das Wort „Doping“ nicht verwendet hat. Der Kernsatz seines Vortrages lautete: „Ich habe niemanden betrogen.“ Glaubt er wirklich daran?

Das ist sehr wahrscheinlich. Bei uns greift im täglichen Leben ein ähnlicher Mechanismus. Wir versuchen ein bestimmtes Bild nach außen abzugeben und bekommen Rückmeldungen von Mitmenschen. An diesen Antworten orientieren wir uns. Und danach verändert sich unsere eigene Wahrheit.

Wenn Ullrich also häufig genug aus seinem nahen Umfeld zu hören bekommt, dass er nie gedopt hat, dann ist er irgendwann davon überzeugt?

Das kann durchaus sein. In diesem Fall könnte er sich in Gesprächen mit Freunden oder Bekannten ja auch immer wieder die Bestätigung holen, dass es so ist, wie er denkt. Nehmen Sie das Beispiel eines Kindes. Dem wird erzählt, dass es den Weihnachtsmann gibt und dass der Glaube daran toll und richtig ist. Es wird häufig in diesem Glauben bestätigt, weil sich die Phantasie des Kindes entwickeln soll. Irgendwann gehört der Weihnachtsmann ganz fest in die Welt dieses Kindes.

Bei Ullrich allerdings ist der Druck von außen sehr hoch – alle wollen von ihm wissen, ob er betrogen hat.

Dieser Druck kann eine so genannte Reaktanz hervorrufen. Der Druck von außen festigt die innere Haltung dann sogar noch. Wenn 1000 Leute sagen, dass du betrogen hast, dein enger Kreis aber behauptet genau das Gegenteil, dann musst du noch fester daran glauben – sonst brichst du unter diesem Druck zusammen.

So wie Christoph Daum, der 2000 in einer Pressekonferenz mit großer Überzeugung behauptete, nicht gekokst zu haben. Das Gegenteil wurde später bewiesen.

Die Pressekonferenz habe ich nicht gesehen. Aber das ist möglich. Auch Daum könnte damals in eine Parallelwelt abgetaucht sein.

Das Gespräch führte Ingo Schmidt- Tychsen.

Werner Mickler, 54, ist Sportpsychologe. Er arbeitet am psychologischen Institut der Sporthochschule Köln unter anderem in der Trainerausbildung und kümmert sich um junge Athleten.

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