zum Hauptinhalt

Sport: Eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten

Von Erich Retter zu Sebastian Deisler: Wenn Fußballer so gut wie dabei sind – und dann doch nicht

Berlin - Erich Retter hat „Das Wunder von Bern“ bis heute nicht gesehen. Mehrmals ist er eingeladen worden, sich den Film anzusehen, der vom ersten WM-Titel der deutschen Fußball-Nationalelf erzählt. Retter hat das immer abgelehnt, obwohl er selbst ein Teil dieser Geschichte gewesen ist. Oder besser: Er ist ein Teil der Vorgeschichte gewesen, und das ist das, was Retter auch heute, 52 Jahre danach, noch schmerzt. Ob er sich ein bisschen als Weltmeister fühlt? „Auf keinen Fall“, sagt Retter, der inzwischen 81 ist. „Da habe ich ja nicht mehr dazugehört.“

Retter gehörte dazu, als die deutsche Mannschaft sich für die WM in der Schweiz qualifizierte. In allen vier Spielen stand er auf dem Platz, genauso wie im vorläufigen 40er-Kader des Bundestrainers Sepp Herberger. „Ich war der einzige Verteidiger, der gesetzt war“, sagt Retter. Doch dann kam der 25. April 1954 und das letzte Vorbereitungsspiel vor der WM, in Basel gegen die Schweiz. Nach zwölf Minuten bleibt der Verteidiger vom VfB Stuttgart mit den Stollen im Rasen hängen, er verdreht sich das Knie, der Meniskus reißt. Zehn Wochen sind es noch bis zur WM. Zwölf Wochen dauert es, bis Retter wieder fit ist. Werner Liebrich rückt in die deutsche Verteidigung und wird ein Held von Bern. „Das Leben geht weiter“, sagt Erich Retter, der vor 52 Jahren kein Weltmeister wurde, „ich bin darüber hinweg.“ Noch heute hört man, dass er lieber nicht darüber reden würde.

Jörg Heinrich hat kein Problem damit, über die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea zu sprechen. Er hat sie am Fernseher in Deutschland erlebt. Heinrich könnte heute Vizeweltmeister sein. Er war schon in den Kader berufen worden. Doch drei Tage vor dem Abflug nach Asien, nach dem letzten Vorbereitungsspiel, ging Heinrich zu Teamchef Rudi Völler und teilte ihm mit, dass er lieber zu Hause bleiben wolle. Nach drei Faserrissen sei er nicht richtig fit, der Mannschaft könne er so nicht helfen. „Das war gar nicht schwer“, sagt Jörg Heinrich, der inzwischen Sportdirektor beim Berliner Regionalligaaufsteiger 1. FC Union ist.

Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften ist auch eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Johan Cruyff verzichtete 1978 auf seine Teilnahme an der WM in Argentinien. Die genauen Gründe hat er nie genannt. Angeblich hat er seiner Frau versprechen müssen, nie wieder an einer Weltmeisterschaft teilzunehmen, nachdem bei der WM in Deutschland über angebliche Sexpartys im holländischen Mannschaftshotel berichtet worden war. Mehmet Scholl, einer der begnadetsten deutschen Fußballer der vergangenen 20 Jahre, wird seine Karriere wohl beenden, ohne ein WM-Spiel bestritten zu haben. 2002 wollte er nicht, jetzt will Jürgen Klinsmann ihn nicht mehr.

Erwin Kremers verpasste die WM 1974, weil er im letzten Bundesligaspiel der Saison den Schiedsrichter beleidigt und dafür die Rote Karte gesehen hatte. Uli Stielike fehlte 1978, weil er gegen den Ratschlag des DFB-Präsidenten Hermann Neuberger zu Real Madrid gewechselt war, und Franz Beckenbauer, weil er von Cosmos New York für die Vorbereitung nicht freigestellt wurde. Wenn Jürgen Klinsmann morgen in Berlin seinen WM-Kader bekannt gibt, wird es wieder Spieler geben, die die Entscheidungen des Bundestrainers nicht verstehen können. So wie vor vier Jahren Martin Max, der als Torschützenkönig der Bundesliga unberücksichtigt blieb. Thomas Hitzlsperger könnte diesmal ein solcher Härtefall werden. Vor einem Jahr gehörte er noch zu Klinsmanns Kerntruppe, seitdem ist er irgendwie aus dem Kader geglitten.

Vielleicht ist er in vier Jahren dabei. So wie Sebastian Deisler, der schon vor vier Jahren hoffen musste, dass er in vier Jahren dabei ist. Wenn Deisler, das einstige Ausnahmetalent des deutschen Fußballs, Glück hat, bestreitet er dann mit 30 sein erstes WM-Spiel. Dabei schien er 2002 nach einer Knieverletzung gerade noch rechtzeitig fit zu werden, im letzten Vorbereitungsspiel aber verletzte er sich erneut. Deislers Fall ist typisch. Das Ereignis Weltmeisterschaft ist so groß, dass selbst die kleinste Chance auf einen Einsatz wie eine Verheißung erscheint. Deshalb hat Englands Nationaltrainer Sven- Göran Eriksson Wayne Rooney nominiert, obwohl er verletzt ist; deshalb war Zinedine Zidane vor vier Jahren dabei; und deshalb wird auch Francesco Totti im Zweifel zum italienischen Kader gehören.

Erich Retter hat es 1954 nicht mehr rechtzeitig geschafft. Er saß im Berner Wankdorfstadion auf der Tribüne, als seine einstigen Mitspieler in Bern Weltmeister wurden. Die meisten Fußballfans werden ihn darum beneiden. Erich Retter sagt: „Vierundfünfzig, das habe ich aus dem Gedächtnis gestrichen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false