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Sport: Eine Samba voller Melancholie

Uruguays Aus und das Scheitern Südamerikas

Ein letztes Mal rollt die hellblaue Welle an. Victorino, Godin, Cavani, vor ein paar Wochen hat sie kaum jemand gekannt, jetzt sind sie drauf und dran, eine letzte große Sensation zu schaffen. Victorino flankt, Godin kommt nicht mehr ran mit dem Kopf, Cavani bleibt hängen mit dem letzten Dribbling. Ein Kamerateam betritt den Platz und wird sofort vertrieben von wütenden Uruguayern, es gibt noch einen letzten Freistoß, und dann erst ist es vorbei. Abpfiff: 2:3 – Uruguay ist raus und damit auch die letzte Hoffnung Südamerikas.

Mit letzter Kraft übersteht der große Favorit aus den Niederlanden die Nachspielzeit, von der Rafael van der Vaart später sagen wird, dass er in seinem Leben noch nie eine so große Angst verspürt habe. Es war die Angst vor Uruguay, aber eine ganz andere Angst, als sie die Mannschaften aus der Alten Welt zuletzt verspürt haben, wenn sie anzutreten hatten gegen den ersten aller Weltmeister, gekrönt 1930 daheim in Montevideo. Uruguay, das war in der Vorstellungswelt der europäischen Fußball-Zivilisation ein Stamm wilder Barbaren, dessen Ziel zuerst die gegnerischen Schienbeine waren und dann der Ball. Den Gipfel kreativer Fußballkunst erklomm Uruguay auch in Südafrika nicht. Dafür brachte es Systemtreue und individuelle Stärke miteinander in Einklang und schaffte damit genau das, was Argentinien und Brasilien unter höchst unterschiedlichen Vorzeichen nicht schafften. Deshalb war die kleinste Fußball-Nation Südamerikas bis zuletzt die letzte Hoffnung des Kontinents.

Diese WM ist das erste Turnier in der südlichen Hemisphäre, das keine südamerikanische Mannschaft als Sieger sieht, ja nicht einmal für eine Teilnahme am Endspiel hat es gereicht. Vor allem aber steht diese Weltmeisterschaft in einer logischen Konsequenz zu der vor vier Jahren in Deutschland, die für Südamerika schon nach dem Viertelfinale beendet war. Dabei hatte in Südafrika nach der Vorrunde noch manches für eine unerwartete Renaissance gesprochen, für einen Sieg lateinamerikanischer Leidenschaft über das europäische Kapital. Brasilien, Argentinien, Paraguay, Chile, Uruguay und Mexiko qualifizierten sich geschlossen für das Achtelfinale, allein das Fußball-Schwellenland Honduras blieb außen vor. Doch schon dieser Erfolg ließ sich schwer mit einer übergreifenden Identität erklären. Die einen bezogen ihre Dominanz aus im positiven Sinne preußisch organisierter Verteidigung (Paraguay, Uruguay, Brasilien), keine Mannschaft spielte so vogelwild nach vorn und verteidigte so brutal wie Chile, und die Argentinier traten mit ihrem Mix aus virtuoser Angriffskunst und naiver Absicherung so ambivalent auf, dass der deutsche Trainer Joachim Löw von zwei Mannschaften in einer sprach. Gemeinsam war allen neben dem anfänglichen Erfolg nur der schnelle Absturz. Im Endspiel sind die Europäer wie schon 2006 unter sich.

Nun hatte niemand ernsthaft einen Weltmeister aus Chile, Paraguay oder Mexiko erwartet. Auch Uruguays Durchmarsch ins Halbfinale war, bei allem Respekt vor der Arbeit des Kollektivs und dem großartigen Diego Forlán, vor allem dem Versagen eines tragischen Heldens aus Ghana beim Elfmeter geschuldet.

Die großen Fußballmächte Argentinien und Brasilien aber hatten die Liste der WM-Favoriten lange Zeit angeführt. Auch wegen der mühelos absolvierten Vorrunde, vor allem aber wegen ihres erlesenen Personals. Doch sobald die Stars für ihre Nationalmannschaften spielen, legen sie eine Melancholie auf den Platz, die sich schlecht verträgt mit der Siegermentalität im Kluballtag. Brasilien und Argentinien scheiterten beide auf höchst unterschiedliche Weise, aber doch im tragischen Einklang. Sven Goldmann, Kapstadt

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