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Jenseits aller Branchengesetze. Braunschweigs Trainer Torsten Lieberknecht steht nicht zur Diskussion - trotz sechs Niederlagen in sieben Bundesliga-Spielen.

© dpa

Eintracht Braunschweig: Chancenlos und glücklich

Sie wissen, dass sie zu schlecht sind für die Bundesliga. Doch die Braunschweiger stehen unabhängig von den Ergebnissen weiter zu ihrer Eintracht – und feiern Woche für Woche aufs neue den Untergang.

Von Christian Otto

Das lange Spalier vom Stadion bis zum Trainingsplatz macht sie alle mächtig stolz. Rund 500 Fans von Eintracht Braunschweig, dem derzeit schlechtesten Verein der Bundesliga, sind wieder mal richtig gut drauf. „Einmal Eintracht, immer Eintracht“ schallt es ihrem Liebling entgegen, zu dessen Ehren sie erschienen sind. Torsten Lieberknecht.

Dabei ist Lieberknecht angesichts der vielen Niederlagen seines Teams über die eigene Rolle als Chefcoach ins Grübeln gekommen. „Ich kann der Mannschaft im Moment nicht helfen“ – in anderen Vereinen muss ein Profitrainer für einen solchen Satz um seinen Job bangen. Lieberknecht hat ihn gesagt und wird von den Fans gefeiert. „Wir sind hier nicht irgendein Verein. Wir sind Eintracht Braunschweig“, sagt Lieberknecht nun und lächelt freundlich in die auf ihn gerichtete Fernsehkamera.

Es ist eine Woche zum Staunen in Braunschweig. Sonntag, nach dem bitteren 0:4 gegen den VfB Stuttgart, das Geständnis des ratlosen Trainers. Mittwoch, es sollte ein ganz normaler Trainingstag werden, erobern die Fans das Vereinsgelände und huldigen Lieberknecht, damit er bloß nicht aufgibt. Und am morgigen Samstag, wenn das Auswärtsspiel beim ungeliebten Nachbarn VfL Wolfsburg ansteht, singen sie wieder ihre Lieder. Die handeln von der besonderen Tradition ihres Vereins, über die nicht enden wollenden Hassgefühle gegen Hannover 96 und kurioserweise auch vom meilenweit entfernten „Euroooopapooookal“. „Die Leute wollen das Gefühl, nach 28 Jahren wieder in der ersten Liga zu sein, so richtig auskosten. Sie möchten sich zeigen in Deutschland. Und sie wissen genau, dass es ganz schnell wieder vorbei sein kann“, sagt Markus Meyer. Er ist kein Ultra, er trägt keine Kutte. Der 49-Jährige ist Fan aus Leidenschaft und hält seiner Eintracht schon seit 1977 die Treue. Block 8. Mit Dauerkarte? Blöde Frage. In Block 8 wird wie in der gesamten Südkurve des Eintracht-Stadions voller Inbrunst gesungen und gefeiert, selbst wenn es 0:4 gegen Stuttgart steht. Markus weiß ganz genau, dass die aktuelle Mannschaft zu schlecht für die Erste Liga ist. „Klar, es tut weh, immer zu verlieren. Aber die Leute hier sind sehr leidensfähig. Die werden auch am 25. Spieltag noch hinter der Mannschaft stehen“, versichert er voller Stolz.

Vielleicht hat der Rest der Liga noch gar nicht so richtig verstanden, mit wem man es hier zu tun hat. Die Eintracht verliert und verliert und wird trotzdem bejubelt. Braunschweig benimmt sich wie das berühmte gallische Dorf, das seine eigene Regeln hat und die anderen da draußen eher komisch findet. Um die Rolle perfekt ausfüllen zu können, fehlt dummerweise nur der Zaubertrank für die Spieler. Sieben Spieltage, sechs Niederlagen, 18 Gegentore. Was gibt es da eigentlich noch zu singen und zu hoffen?

Rasenheizung, Stadionumbau, Nachwuchszentrum - es gibt auch positive Seiten

Nach sieben Spieltagen ist noch niemand abgestiegen. Und ich gebe mich nicht mit dem Gedanken zufrieden, dass es so weitergeht“, sagt Norman Theuerkauf. Der defensive Mittelfeldspieler gehört zu jenen Braunschweiger Helden, die es ohne viel Geld und Tamtam von der Dritten Liga bis in die Bundesliga geschafft haben. Außerhalb von Braunschweig wird dem Klub nicht mehr viel zugetraut – außer der Chance, als bisher schlechtester Erstligaaufsteiger in die Geschichte des deutschen Fußballs einzugehen. In Braunschweig selbst wissen alle zu schätzen, was der „Theuer“ und die Jungs geschafft haben. Mancher spricht von einer einjährigen Fortbildung für die Spieler, die ruhig mit dem Abstieg enden darf. „Die Fans können sich in unsere Lage versetzen. Die wissen, wo wir herkommen. Solange sie das Gefühl haben, dass wir uns zerreißen, unterstützen sie uns“, sagt Theuerkauf.

Die Spieler sind schon längst unter der wärmenden Dusche verschwunden, als ihr Trainer immer noch Autogramme schreibt und für Fotos mit den Fans zur Verfügung steht. Lieberknecht genießt Kultstatus und wird wohl selbst nach sechs weiteren Niederlagen in Folge nicht entlassen. Er leistet seit 2008, als der Verein am sportlichen und finanziellen Abgrund stand, Aufbauarbeit – ohne große Mittel. Kein Geld, keine namhaften Neuzugänge und trotzdem zweimal aufgestiegen. Es gibt in Braunschweig, wie in vielen anderen Profivereinen, so manchen Anhänger mit begrenztem Horizont und falscher Gesinnung. Aber die Mehrheit der Eintracht-Fans ist voller Euphorie und reflektiert genug, um sich noch an jene Zeiten zu erinnern, als der Verein Geld, das er gar nicht hatte, für sündhaft teure Spieler ausgegeben hat. 2006 zum Beispiel, als innerhalb einer Saison fünf Trainer verschlissen worden sind. „Trainer Willi Reimann, elf neue Spieler während der Winterpause. Das hatten wir doch alles schon. Es hat nichts gebracht“, sagt Eintracht-Fan Markus. Er sieht sich, während Lieberknecht ein Bad in der Menge nimmt, auf dem Platz nebenan das U-19-Duell zwischen der Eintracht und dem Erzrivalen Hannover 96 an. Sein Verein wird auch hier verlieren. Meyer leidet, kann sich aber perspektivisch freuen. Weil Eintracht Braunschweig das viele Geld, das dank der Zugehörigkeit zur Bundesliga in die Vereinskasse fließt, nicht gleich wieder verplempert, sondern in eine bessere Zukunft investiert. Rasenheizung für den Trainingsplatz, Modernisierung des Stadions, Neubau eines Nachwuchsleistungszentrums: Während Fußballdeutschland darüber staunt, wie chancenlos Eintracht Braunschweig bleibt, tut der Verein hinter den Kulissen eine Menge dafür, dass er sich Stück für Stück weiterentwickelt.

Zwischen Lieberknecht mit seinen Profis und dem Nachwuchsteam auf dem Platz nebenan steht eine Würstchenbude in den Vereinsfarben blau-gelb. Hier wird sich nicht geschämt für die deftigen Niederlagen, sondern davon geschwärmt, wie schön es trotzdem ist. Die Braunschweiger Fans hatten in der Schlussphase des Bundesligaheimspiels gegen Stuttgart, in dem ihre Lieblinge chancenlos blieben, natürlich wieder die Fußballhymne „You‘ll never walk alone“ angestimmt. Aus tausenden treuer Kehlen klingt das Lied wunderbar. Voller Pathos, mit jeder Menge Tradition, verblüffend für den Gegner. Thorsten Kirschbaum, der Torhüter des VfB Stuttgart, macht kein Geheimnis daraus, dass er eine Gänsehaut bekommen hat. Nicht weil seine eigene Mannschaft so souverän gewonnen hat, sondern weil der Braunschweiger Anhang aus einem vermeintlichen Fiasko für die heimische Mannschaft ein wahres Freudenfest macht.

Als Revanche für so viel Rückendeckung können sich die Fans der Eintracht einer besonderen Nähe zu ihren Lieblingen sicher sein. Am Ende eines turbulenten Mittwochs an der Hamburger Straße versucht der Chefcoach Lieberknecht auf dem Platz rechts von der Würstchenbude, endlich das Übungsgelände zu verlassen. Aber zwei junge Damen überreichen ihm noch ein selbst gebasteltes Plakat, auf dem steht: „Torsten, ohne Dich wären wir nicht hier.“ Sie umarmen ihn, muntern ihn auf und überreichen immer mehr Geschenke. „Das war aber wirklich nicht nötig“, sagt Lieberknecht und wird bei aller Routine doch noch verblüfft. Man reicht ihm ein kleines Baby, vielleicht sechs Monate alt, mit der Bitte um ein gemeinsames Fotos. Das kleine Mädchen fühlt sich offenbar wohl in den Armen des Trainers. Es sabbert und trägt eine blaue Jacke sowie blau-gelbe Schühchen mit offiziellem Eintracht-Logo.

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