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Sport: Einturnen für die WM

Bei der EM holten die Deutschen vier Medaillen, aber der Höhepunkt folgt erst

Als das deutsche Turn-Team Amsterdam verließ, da kam ihm eine orangefarbene Lawine entgegen. Hunderttausende von Holländern pilgerten in die Stadt, um den „Königinnentag“ zu feiern – das größte Fest des Landes mit viel Musik, viel Bier und bester Laune. Die Stimmung in der Abordnung des Deutschen Turnerbundes (DTB) war ähnlich gut wie bei den Einheimischen: Vier Medaillen hatten die DTB-Athleten bei den Europameisterschaften im RAI-Kongresszentrum gewonnen. Die Partystimmung in der deutschen Riege beschränkte sich allerdings auf die Rückreise, denn schon am Tag der Arbeit begann die Vorbereitung auf die Weltmeisterschaften, die Anfang September in Stuttgart stattfinden werden.

Selbst für Fabian Hambüchen, der sich am Sonntagabend in Amsterdam mit einer spektakulären Übung mit der Weltrekordschwierigkeit von 7,0 Punkten seinen Reck-Titel von 2005 zurückgeholt hatte, gab es gestern nicht trainingsfrei. „Ein bisschen Bewegung muss sein“, sagte Wolfgang Hambüchen, der Trainer und Vater des kleinen Mannes aus Wetzlar. Austurnen nach einem spannenden EM-Finale. 3000 hatten am Sonntag gebannt verfolgt, wie der 19-jährige Abiturient die europäische Reck-Konkurrenz in die Schranken verwiesen hatte. „Als ich denen in der Aufwärmhalle gesagt habe, dass ich heute die A-Note von 7,0 probieren möchte, haben sie nur mit dem Kopf geschüttelt“, sagte Hambüchen, der seine Kür nach einem kleinen Nachdrücker beim Adlerschwung auch punktgenau beendete. Aljaz Pegan (2./Slowenien) und Olympiasieger Igor Cassina (3./Italien) blieb bei der Siegerehrung nichts anderes übrig, als den 1,63 Meter große Turner aus Deutschland voller Anerkennung in den Arm zu nehmen.

Die WM ist der Saisonhöhepunkt in diesem Jahr. „Mein Ziel ist es jetzt, diese Übung bis Stuttgart stabil zu bekommen“, sagte Hambüchen, der „nur so aus Spaß“ in Gedanken auch schon eine Kür mit der A-Note 7,4 entworfen hat. In wenigen Tagen wird er das Abitur in der Tasche haben und sich danach ganz auf den Sport konzentrieren können. Hambüchen nützt die erste Zeit für ein zweiwöchiges Trainingslager im Konami-Sportclub von Tokio, wo er sich schon in den beiden Vorjahren mit den besten Japanern auf die großen Wettkämpfe vorbereitet hatte. Wolfgang Hambüchen, der früher selbst in Japan trainiert hatte, begrüßt die Ausflüge seines Sohnes in eine andere Turnkultur. „Er muss sich weiter entwickeln, denn Stillstand bedeutet in dieser schwierigen Sportart Rückschritt“, sagte er.

Die DTB-Funktionäre zogen unterdessen eine positive Bilanz der europäischen Titelkämpfe. „Zuerst dachten wir, die EM sei eine Durchgangsstation auf dem Weg zur WM“, sagte DTB-Sportdirektor Wolfgang Willam, „nach diesen Erfolgen müssen wir sagen: Sie war der erste Höhepunkt.“ Mit Silber im Mehrkampf und dem Titel am Reck hatte Fabian Hambüchen die EM gekrönt, die Silbermedaille von Oksana Tschussowitina (Köln) beim Sprung und die Bronzeplakette von Matthias Fahrig (Halle) am Boden zeigten jedoch, dass hinter Hambüchen etwas wächst. „Umso besser, wenn außer ihm auch noch andere Medaillen gewinnen“, sagte Willam, „das gibt uns Auftrieb für Stuttgart.“ Mit dem Abschneiden in Amsterdam haben die DTB-Athleten bewiesen, dass Deutschland wieder in die Riege der großen Turn-Nationen Europas zurückgekehrt ist.

Und der weltweite Vergleich? Der wird erst in vier Monaten bei der WM im eigenen Lande zu ziehen sein. „Eine WM-Medaille in Stuttgart wäre gut“, sagte Willam, der genau weiß, dass die Konkurrenz in den Jahren vor Olympia höchst konzentriert arbeitet. Es gilt dann als nahezu ausgeschlossen, dass ein Hambüchen noch einmal die Konkurrenz so dominiert wie jetzt im Reck-Finale von Amsterdam.

Jürgen Roos[Amsterdam]

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