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Mittendrin, statt nur dabei. Wenn die Emotionen im Eishockey hochkochen, haben die Schiedsrichter alle Hände voll zu tun.

© dpa

Eishockey-Schiedsrichter: Nur gewinnen können sie nicht

Sie haben den undankbarsten Job, viele urteilen über sie und wissen es besser – aber ohne sie geht es nicht: Ein Tag mit Schiedsrichtern beim Eishockey.

Die Schiedsrichter betreten das Eis. Und werden ausgepfiffen. Zwei Minuten später prasselt das Feuerwerk von der Decke in der Arena am Ostbahnhof. Die Berliner Eishockeyprofis laufen durch ein aufgeblasenes Plastikeisbärenmaul auf die Eisfläche, 14 200 Zuschauer in der Halle johlen. Dann geht es los, Deutsche Eishockey-Liga (DEL), Eisbären Berlin gegen die Straubing Tigers. Wenig später, Foul Eisbären. Florian Zehetleitner schickt einen Profi für zwei Minuten auf die Strafbank. „Du hast ja nicht alle Latten auf dem Zaun“, ruft eine Frau aus dem Eisbären-Fanblock. Noch mal zwei Minuten gegen Berlin, der Ton in der Stehkurve wird schärfer: „Hängt sie auf, die schwarze Sau.“ Schiedsrichter im Eishockey – das ist nichts für Harmoniesüchtige. Zehetleitner sagt: „Du machst viele Spiele, aber du kannst nie gewinnen.“

Schiedsrichter – ohne sie geht es nicht im Profisport. Ihre Rolle ist einsam, ihnen wird wenig verziehen. Der Fehler des Torjägers ist vergessen, wenn er wenig später trifft. Aber der Fehler eines Schiedsrichters wird auch noch nach dem Spiel diskutiert und seziert. Jetzt, da die Play-offs um die Meisterschaft anstehen, noch ein bisschen mehr als in der Hauptrunde. Und es gibt viele Richter über die Schiedsrichter: Zuschauer, Spieler, Trainer, Journalisten.

Zwei Stunden vor Spielbeginn erzählt Marcus Brill Geschichten, die er im Eishockey erlebt hat. Er sitzt mit seinem Kollegen Florian Zehetleitner in einem engen, fensterlosen Kabuff in der Berliner Arena, der Schiedsrichterkabine. Bei Nachwuchsspielen sei das noch schlimmer als bei den Profis, sagt Brill. Wenn die Eltern wütend werden, was er da schon alles an Beleidigungen gehört habe. Dabei sollen die Männer im schwarz-weißen Kostüm Recht sprechen, nicht Unrecht verbreiten. Zehetleitner sagt, er gehe doch nicht mit der Einstellung ins Spiel, seine Machtposition zu missbrauchen. Dass Trainer und Spieler an den Schiedsrichterleistungen rummäkeln, nehme er ernst, aber Depressionen bekomme er nicht. „Auf dem Eis kommen wir meistens gut klar, da reden wir viel.“ Das Getöse nach dem Spiel gehöre dazu. „Das muss man abkönnen.“ Schweigen.

Warum um Himmelswillen tun sich die Männer das an? Warum wird jemand Schiedsrichter, wenn er nicht gewinnen kann? Zehetleitner sagt: „Weil man Teil des Gesamtkunstwerkes ist.“

Ins Gesamtkunstwerk ist Marcus Brill aus familiären Gründen gekommen, sein Vater war Schiedsrichter. Zehetleitner wäre gern Eishockeyprofi geworden, doch es hat nicht gereicht. Also wurde er Schiedsrichter. Brill, 33 Jahre alt, ist Diplom-Ingenieur und angestellt bei der Stadt Bad Dürkheim, Leiter des Sachgebietes Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung. Zehetleitner, 32 Jahre, leitet auch, bei einer großen Spedition in Augsburg. Beide sind Schiedsrichter im Nebenjob, so wie die meisten der 20 Referees in der DEL, in der es inzwischen auch drei Profis gibt. 440 Euro bekommt ein Amateur-Schiedsrichter pro Spiel, plus Spesen. Werden zwei Hauptschiedsrichter angesetzt, was in brisanten Spielen immer häufiger der Fall ist, dann gibt es 320 Euro pro Mann.

Noch knapp anderthalb Stunden bis Spielbeginn. Zehetleitner und Brill stülpen ihre schwarz-weiß gestreifte Kluft über. Dann geht es vor die Halle. Laufen, aufwärmen. Eishockeyschiedsrichter, das ist nicht nur psychisch, sondern auch physisch anspruchsvoll. Schlittschuhlaufen auf hohem Niveau ist Voraussetzung. Fitness sowieso. Die wird vor der Saison in Trainingslagern ausgiebig getestet, sagt Frank Awizus, der einst Profischiedsrichter in der DEL war. Nun ist der gelernte Polizist Schiedsrichterbeauftragter.

Heute beobachtet und beurteilt der große Mann mit der sonoren Stimme Brill und Zehetleitner. Die gehen die Aufstellungen beider Teams durch, die Spielerlizenznummern – Papierkram, der dazugehört, wie die Vorbesprechung mit den beiden Linienrichtern. Die wirken entspannt, besonders Gregor Brodnicki. Dem kompakten Kerl sind die vielen Eishockeyspiele ins Gesicht geschrieben. Geschichtsfalten nach über 500 Spielen im Profieishockey. Der Brodnicki sei ein „DEL-Gründungsmitglied“, sagt Brill lachend. Die Liga gibt es seit 1994.

Seitdem hat Brodnicki viele Kämpfe schlichten müssen. Immer wenn die Spieler aneinander geraten, spielen die Linesmen Deeskalationsteam. Zwei Dinge seien dabei wichtig, sagt Brodnicki. „Psychologie und Kraft.“ Dann schmunzelt er. „Die meisten Spieler warten sehnsüchtig darauf, dass der Arm des Linesman dazwischengeht.“ Von wegen harte Jungs, von wegen Prügelsport: „95 Prozent der Kämpfe sind Show.“ Und die fünf Prozent, die sich wirklich prügeln wollen? „Die dürfen sich erst mal austoben.“

Vom Buhmann zum Vollstrecker des Guten

In wenigen Minuten geht es los. Brill und Zehetleitner prüfen noch kurz die Videoanlage in einem Raum neben ihrer Kabine. Zwei Monitore, ein Schaltpult. Bild für Bild kann hier die Flugbahn des Pucks verfolgt werden. Seit über einem Jahrzehnt gibt es in der DEL den Videobeweis, bei strittigen Torszenen verlassen die Schiedsrichter das Eis und schauen sich in Zeitlupe an, ob die Scheibe die Linie überquert hat. „Eine gute Sache, das nimmt den Druck von den Schiedsrichtern“, sagt Beobachter Awizus. Brill pflichtet ihm bei. „Wenn wir nach einem Videobeweis wieder aufs Eis kommen, wird die Entscheidung von Spielern und Zuschauern akzeptiert.“ Die Menschen vertrauen der Macht der Bilder. Dabei versagen die Bilder wie auch Menschen schon mal, erzählt Brill. Video ist nicht allmächtig. In unauflösbaren Fällen blieben die Schiedsrichter bei ihrer ursprünglichen Entscheidung.

Das Spiel der Eisbären gegen Straubing läuft gut für das Duo. Nicht, weil es die richtigen Entscheidungen fällt, sondern weil sich die Eisbären nach den ersten beiden Strafen gegen sie und damit auch ihre Fans beruhigen und gleichzeitig die Straubing Tigers ruppiger werden. Es gibt Strafen gegen die Bayern, es gibt Applaus von den Rängen. Die Schiedsrichter sind nicht mehr die Bösen, sondern Vollstrecker des Guten.

Aber wie die Zuschauer reagieren, das darf einen Schiedsrichter nicht leiten, sagt Zehetleitner. „Das Schlimmste ist, wenn man versucht, eine Fehlentscheidung mit einer Konzessionsentscheidung auszugleichen.“ Dann verliere man den Respekt beider Mannschaften. „Fehler machen wir alle, wir müssen ja in Sekundenbruchteilen entscheiden. Eishockey ist brutal schnell. Eine Nichtentscheidung kann ein ganzes Spiel entscheiden.“

Im zweiten und dritten Drittel entscheiden Brill und Zehetleitner das Spiel. Gleich zwei Spieler schicken sie nach unfairen Checks vorzeitig vom Eis. Die Profis aus Bayern beschweren sich immer wieder, Brill und Zehetleitner müssen beschwichtigen und schaffen es – ohne Kontrollverlust.

Am Ende gewinnen die Eisbären, die Halle tobt. Kein Zuschauer interessiert sich mehr für die Männer in den schwarzweiß-gestreiften Anzügen. Die verabschieden sich von den Spielern, dann schweben sie mit hochroten Köpfen in Richtung Kabine. Der Diplom-Ingenieur aus Bad Dürkheim und der Leiter der Landverkehre sind zu zwei anderen Wesen mutiert. Voll mit Adrenalin. Ein betörender Moment, für den sich der ganze Aufwand lohnt. Brill sagt: „Das ist Charakterbildung, wenn du es schaffst, dich vor 14 000 Menschen zu behaupten.“ Das Erfolgserlebnis ist Belohnung für zwei Stunden Druck. Runterfahren, sagt Brill. Schließlich muss er noch zurückfahren nach Bad Dürkheim. Es ist 22.30 Uhr. Sechseinhalb Stunden Autofahrt liegen vor ihm. Am Samstagmorgen muss er arbeiten. Am Sonntag ist er in Augsburg eingeteilt beim Spiel. „Da müssen die Familien mitspielen“, sagt Brill. Beim Druck muss der Mensch im Schiedsrichter mitspielen.

Mancher Mensch hält den Druck nicht aus. Was haben die beiden empfunden, als sie von dem Suizidversuch des Fußball-Schiedsrichters Babak Rafati erfuhren? Natürlich sei das ein Schock gewesen. „Schlimmer noch fand ich die Geschichte mit den beiden Handball-Schiedsrichtern, die auf der Heimfahrt im Auto ums Leben kamen“, sagt Zehetleitner. „Wenn du nach so einem Spiel noch 650 Kilometer vor dir hast, dann ist das heftig.“ Zwei Stunden trage einen das Restadrenalin, dann helfe nur noch laute Musik. Oder eben nicht Autofahren. Zehetleitner übernachtet am Freitag in Berlin im Hotel. Das sei besser so, sagt er.

Es ist nach 23 Uhr, als die Schiedsrichter das Gelände an der Arena verlassen. Unbemerkt von den feiernden Berliner Fans auf dem Vorplatz und den frierenden Autogrammjägern. „Wir waren heute auf dem Eis diejenigen, die am wenigsten Geld für ihre Arbeit verdient haben“, sagt Marcus Brill zum Abschied. Aber dafür waren beide Teil des Gesamtkunstwerkes. Ob sie das in den am Dienstag beginnenden Play-offs auch sein können, wird sich erst kommende Woche entscheiden, sagt Holger Gerstberger, der Schiedsrichter-Beauftragte der DEL. Denn in die Play-offs kommen nicht alle Schiedsrichter in der DEL. Konkurrenzkampf, wie im Sport üblich.

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